Nihad Siris schrieb schon im Jahr 2004 gegen das totalitäre Regime an.

Foto: Susanne Schanda

Wien/Aleppo - Wie in Damaskus ist es auch im Zentrum Aleppos bisher kaum zu Protestkundgebungen gekommen. Nur an der Peripherie gibt es vereinzelte Demonstrationen gegen das Regime. Hier, in der zweitgrößten Stadt Syriens, seiner Geburtstadt, lebt der Schriftsteller Nihad Siris. In einem Telefongespräch analysiert er die Lage seines Landes. Angefangen habe die Revolte bei den unteren Gesellschaftsschichten in der Provinz: "In den Dörfern, kleinen Städten und Vororten der Großstädte geht es den Menschen besonders schlecht. Sie fühlen sich als Opfer der wirtschaftlichen Reformen, betrogen und übergangen. Sie leiden besonders unter der grassierenden Korruption und den Fehlern der Wirtschaftspolitik. Teile der Mittelklasse in Aleppo und Damaskus glaubten bisher, vom Regime zu profitieren. Doch nachdem nun immer mehr kleine und mittlere Betriebe schließen müssen, wird die Stimmung sicher auch hier früher oder später umschlagen."

Nihad Siris äußerst besorgt über die dramatische Entwicklung in seinem Land und zugleich beeindruckt, dass das starre Machtsystem ins Wanken gerät: "Nach Jahrzehnten der Repression nehmen die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand. Und dies trotz der Gefahr, bei jeder Demonstration verhaftet oder gar getötet zu werden. Der Sicherheitsapparat versucht weiterhin, die Bevölkerung einzuschüchtern, doch vergeblich. Die Angst ist weg."

Bereits 2004 erschien in einem libanesischen Verlag sein Roman As-Samt was-Sahab, was auf Deutsch so viel wie "die Stille und der Lärm" bedeuten. Er erzählt vom Dilemma eines regimekritischen Schriftstellers, der mit Schreibverbot belegt und vor die zweifelhafte Wahl gestellt wird, künftig entweder in der Propagandamaschine des "Großen Führers" mitzubrüllen oder in die endlose Stille eines Gefängnisses oder Grabes geschickt zu werden. Mit beißender Ironie leuchtet er in die düsteren Winkel eines totalitären Regimes, in Abgründe des Schreckens, wo Angst regiert und ein absurder Führerkult zelebriert wird.

Mit diesem Roman brach der 1950 in Aleppo geborene Siris sein eigenes Schweigen, das ihm nach dem Ende des Damaszener Frühlings 2001 für Jahre aufgezwungen worden war. Weil er wusste, dass das Buch in Syrien verboten worden wäre, sandte er es dem renommierten Literaturverlag Dar-al-Adab in Beirut. Inzwischen kann es auch in Syrien gefunden werden, illegal importiert von engagierten Buchhändlern. Auf Deutsch ist es unter dem Titel Ali Hassans Intrige im Lenos Verlag erschienen.

Führer und Masse

Er habe in dem Roman die enge Wechselwirkung zwischen Führer und Masse in einem totalitären Regime veranschaulichen wollen, erklärt Siris, der Ingenieurswissenschaften studierte, ehe er seit 1987 schriftstellerisch tätig ist: "Der Führer inszeniert sich als Vater, Beschützer, Weiser, der seine Untertanen wie unmündige Kinder behandelt. In seiner Vorstellung sind sie eine Masse, deren Funktion es ist, ihn zu lieben und zu bestätigen. In der Masse verlieren die Menschen ihre Persönlichkeit und lösen sich auf wie Wassertropen im Meer. Die orchestrierten Kundgebungen dienen der Aufrechterhaltung der Illusion, dass sein Volk ihn liebt. Ohne die Masse ist er nichts."

Bis vor kurzem gab es in Syrien fast ausschließlich Kundgebungen, die das Regime inszenierte, um sich feiern zu lassen. Das hat sich nun geändert: "Mit ihren Protesten brechen die Menschen jetzt dieses Schema Führer - Masse. Sie zeigen, dass sie eigenständige Individuen sind, die ihre Rechte einfordern. Dies löst beim Führer einen ungeheuren Zorn aus. Um seine Macht zu erhalten, geht er deshalb mit äußerster Brutalität gegen die Demonstrierenden vor."

Die regimekritischen Demonstrationen dauern fast vier Monate, Sicherheitskräfte kämpfen mit scharfer Munition und Panzer gegen die Aufständischen. Doch diese geben nicht nach. "Inzwischen ist es leichter geworden, Widerstand zu leisten. Die vorwiegend jungen Menschen gehen unbewaffnet und schutzlos auf die Straße, wo sie lautstark nach Freiheit und Würde rufen. Das ist ein ungeheurer Wandel für die syrische Bevölkerung", sagt Siris. Die kurzen und spontanen Protestkundgebungen, die sich meist schnell wieder auflösen würden, beschreibt er als Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften.

Noch hat die Demokratiebewegung nicht die Mehrheit der Bevölkerung erfasst. Nihad Siris konstatiert sogar eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Regimegegner und -befürworter. Was die Zukunft bringen wird, könne er nicht sage.

Nur dies: "Syrien wird nie mehr so sein wie zuvor. Etwas ist zerbrochen. Die Menschen, die jetzt den Mut haben, für ihre Rechte zu kämpfen, werden dies immer und überall tun. Die Mauer aus Angst und Schweigen ist unwiderruflich gefallen." (Susanne Schanda, DER STANDARD/Printausgabe 2./3. Juli 2011)