Damaskus/Istanbul - Wieder blutige Gewalt in Syrien. Nach dem Freitagsgebet sollen mindestens neun Demonstranten von der Armee getötet worden sein. Diese Zahlen nannte die Opposition am Freitagabend. Alleine in Homs, wo die Armee nach Angaben von Einwohnern auf Demonstranten schoss, sollen drei Zivilisten getötet worden sein. "Auf den Dächern stehen Scharfschützen, die lange Bärte tragen und aussehen wie Iraner", sagte ein Anrainer in Homs. Aktivisten meldeten, in Damaskus sei ebenfalls ein Demonstrant erschossen worden. In der Nacht sei ein Demonstrant in der Stadt Aleppo getötet worden, hieß es. Die Proteste standen diesmal unter dem Motto "Verschwinde".

Halbe Million in Hama

Nach dem Freitagsgebet sind in der zentralsyrischen Stadt Hama nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten rund eine halbe Million Menschen gegen die Regierung von Präsident Bashar al-Assad auf die Straße gegangen. Ein Teilnehmer sagte, der Protestmarsch sei "mehr als einen Kilometer" lang gewesen.

Der Chef der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London, Rami Abdel Rahman, sprach von "mehr als 500.000 Menschen" in Hama etwa 210 Kilometer nördlich von Damaskus. Es habe sich um "die größte Demonstration seit dem Beginn der Revolution in Syrien" Mitte März gehandelt. Die Teilnehmer seien "aus allen Stadtvierteln" in das Stadtzentrum gekommen, sagte ein Teilnehmer. Die Sicherheitskräfte hätten sich nicht gezeigt.

In der Stadt Homs etwa 40 Kilometer südlich von Hama seien bei Protesten von etwa 100.000 Menschen drei Demonstranten von Sicherheitskräften erschossen und mehrere weitere verletzt worden, sagten Menschenrechtsaktivisten. Nach Angaben Rahmans drangen Panzer in das Viertel Baba Amr ein. Auch in Damaskus wurden demnach zwei Protestierende getötet, in der nahen Stadt Daraya zudem ein weiterer Demonstrant.

In der Region Jebel al-Sawiya rund 60 Kilometer nördlich von Hama marschierten tausende Demonstranten in Richtung der Stadt Maaret al-Numan, wie Rahman sagte. Die Region ist seit Dienstag Schauplatz einer Armeeoffensive. In der Ortschaft El Barra wurden laut Rahman in der Nacht auf Freitag eine Frau von einem Heckenschützen und ein Mann von Sicherheitskräften erschossen. In dem benachbarten Dorf Bnin habe es ein drittes Todesopfer gegeben.

Auch in der am Fluss Euphrat gelegenen Stadt Deir Essor im Nordosten Syriens hätten sich Zehntausende Menschen nach dem Verlassen der Moscheen zu einem Protestmarsch zusammengeschlossen, sagte der Präsident der Syrischen Menschenrechtsliga, Abdel Karim Rihawi. Weitere kleinere Proteste gab es unterschiedlichen Angaben zufolge in den Kurdengebieten im Nordosten des Landes und im nördlichen Wirtschaftszentrum Aleppo.

Offiziere "befreit"

Die staatliche Nachrichtenagentur Sana meldete, die syrische Armee habe eine Gruppe von Offizieren und Soldaten "befreit", die in der Provinz Idlib in einen Hinterhalt geraten seien. Die Protestbewegung, die seit März den Sturz des Regimes von Präsident Bashar al-Assad fordert, erklärte dagegen, Soldaten hätten 16 Deserteure getötet.

Sana berichtete unter Berufung auf einen Militärsprecher, Angehörige einer Spezialeinheit hätten die Männer am Donnerstag - zwei Tage, nachdem sie verschleppt worden seien - befreit und dabei zahlreiche Extremisten getötet. Mehrere "bewaffnete terroristische Elemente" seien gefangen genommen worden. Kein Soldat sei ums Leben gekommen. Zur genauen Zahl der "Befreiten" oder der getöteten "Extremisten" wurden keine Angaben gemacht.

Deserteure

Ein Aktivist der syrischen Protestbewegung an der Grenze zur Türkei sagte in einem Telefoninterview: "Eine Gruppe von Deserteuren - 6 Offiziere und 18 Soldaten - hatte uns telefonisch kontaktiert, weil sie in die Türkei fliehen wollten. Sie fragen, wo es noch einen sicheren Weg zur Grenze gibt. Doch dann bekam die Armee Wind davon, sie umstellten das Dorf Al-Ram. Es kam am Donnerstag zu einem Gefecht zwischen beiden Seiten, bei dem 16 Deserteure getötet wurden, die restlichen Militärs wurden gefangen genommen. Wie viele der Angreifer starben, wissen wir nicht."

Der Oppositionelle erklärte, die Wege zur türkischen Grenze seien inzwischen alle unter Kontrolle der syrischen Truppen. Deswegen habe der Ansturm der Flüchtlinge stark nachgelassen. In den Libanon flohen am Freitag erneut rund 100 Syrer.

Amer al-Sadik von der Union für die Koordination der syrischen Revolution sagte, seiner Einschätzung nach wende sich nun auch in der Großstadt Aleppo, wo es in den ersten Wochen des Aufstandes ruhiggeblieben war, das Blatt. "Die Jugend bewegt sich und auch die Geschäftsleute überdenken ihre Position".

Die Staatsmedien berichteten unterdessen von großen Pro-Regime-Kundgebungen in Aleppo und in der Provinz Al-Suwaida. In der Ortschaft Al-Kraja hätten "die Kräfte, die den (von Assad versprochenen) Reformprozess unterstützen", eine 1.700 Meter lange syrische Nationalfahne durch die Straßen getragen. Die Opposition veröffentlichte ihrerseits ein Video, auf dem - wie sie behaupte - zu sehen ist, wie Anti-Assad-Demonstranten in Hama "die längste Fahne der Welt" durch die Stadt tragen.

Die Protestbewegung schrieb auf einer ihrer Internetseiten an die Adresse des Präsidenten: "Wir lieben Dich nicht. Wir lieben Dich nicht, lass uns in Ruhe - Du und Deine Partei." - eine Anspielung auf den vor einigen Jahren populären Pro-Assad-Slogan "Wir lieben Dich. Wir lieben Dich". Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden in Syrien seit Beginn der Proteste Mitte März rund 1.700 Menschen getötet.  (APA)