Warum die Entscheidung des amerikanischen Präsidenten, die US-Truppen schrittweise aus Afghanistan abzuziehen, richtig war - trotz der jüngsten Ereignisse in Kabul. Oder vielleicht gerade deshalb.

***

Im Jahre 1862 in der Frühphase des Bürgerkriegs der USA umzingelte eine Gruppe Bundessoldaten einen jungen, unterernährten, in Lumpen gekleideten Konföderierten irgendwo in Tennessee. Da er offensichtlich keine Sklaven besaß und ihm die Nordstaaten und die Baumwollzollgebühren herzlich wenig interessierten, erstaunte die Nordstaatler sein Wille, sich für Dinge zu opfern, die ganz offenbar seinen Horizont überstiegen. Nach seiner Gefangennahme fragten ihn die Bundessoldaten: "Why are you fighting anyhow? - Warum kämpfst du eigentlich?", worauf er antwortete: "I am fighting because you are down here!"- Ich kämpfe, weil ihr hier unten seid!"

Diese einfache Antwort ist grundlegend für das Verständnis der Bereitschaft von Menschen, zur Waffe zu greifen, wenn fremde Streitkräfte ihr Land okkupieren - wie 150 Jahre später im Irak und in Afghanistan geschehen -, auch wenn sich diese als "Befreier" verstehen. Dabei werden diese Menschen nicht so sehr von religiösen, ideologischen oder anderen indoktrinierten Motiven angetrieben - sie kämpfen vielmehr, wie es wohl die meisten Menschen tun würden, wenn sie ihre Lebensweise, ihr Eigentum und ihr Heim bedroht sehen - ein Punkt, der bereits in David Kilcullens Buch "The Accidental Guerrilla gut herausgearbeitet wurde. In seinem Werk entwickelt dieser Autor den Gedanken, dass die westlichen Interventionen den Typ des "zufallsbedingten Guerillakämpfers" herangebildet hätten, jemand, der aus dem einfachen Grund kämpft, weil wir in sein tägliches Leben eingedrungen sind:

"Unsere überstürzten und unbeholfenen Kriegshandlungen im so genannten "Krieg gegen den Terrorismus" haben bisher größtenteils der Erschöpfungsstrategie von Al-Kaida in die Hände gespielt, daneben Zehntausende zufallsbedingter Guerillas entstehen lassen und uns in eine kostspielige (und potenziell unhaltbare) Abfolge von Interventionen hineinmanövriert. "

Wenn also der Widerstand gegen die Besatzer durch die bloße Präsenz der Westmächte bewirkt wird, ist die nüchterne Folgerung daraus, dass jeder Versuch, die Aufständischen mit einer "Hearts-and-Minds-Kampagne" auf seine Seite zu ziehen, allenfalls Teilerfolge erzielen kann, da die Wurzel des Problems - die militärische Präsenz der Fremdmächte - ausgeblendet bleibt.

Die wenigen Fälle von erfolgreichen Niederschlagungen von Aufständen, wie etwa der Malayan Emergency, sind isolierte Beispiele für erfolgreiche Kampagnen, bei denen freilich externe Ereignisse häufig die Strategie zur Aufstandsbekämpfung überlagerten. Im Falle Malayas, wo es sich bei den Aufständischen um eine ethnische Minderheit handelte (hauptsächlich Chinesen), versprachen die Briten zunächst die Unabhängigkeit Malayas. Während des Aufstands führte der Koreakrieg zu einem Exportboom der Gummiindustrie und damit zu einem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes. Das Interesse der nun besser situierten Bevölkerung am Aufstand nahm so signifikant ab.

Kilcullens Befund erhält durch ein Buch von Professor Robert A. Pape (Cutting the Fuse: The Explosion of Global Suicide Terrorism and How to Stop It), veröffentlicht im Oktober 2010, weiteren Auftrieb. Darin vertritt der Autor die überzeugende These, dass die rasante Zunahme der Selbstmordattentate weniger durch fundamentalistische Indoktrinierung als durch die militärische Besatzung bewirkt wurde. Er schreibt:

"Jeden Monat gibt es heute mehr Selbstmordterroristen, die Amerikaner und ihre Verbündeten in Afghanistan, Irak und anderen muslimischen Ländern zu töten versuchen, als in all den Jahren vor 2001 zusammengenommen. Von 1980 bis 2003 gab es auf der ganzen Welt 343 Selbstmordanschläge, davon waren höchstens 10 Prozent vom Hass gegen die USA motiviert. Seit 2004 gab es mehr als 2000 Anschläge, über 91 Prozent davon gegen die US-Armee und ihre Verbündeten in Afghanistan, Irak und anderen Ländern.

Pape spricht sich für eine Strategie des "Offshore Balancing", anstatt der Aufstandsbekämpfung aus, in deren Rahmen US-Truppen aus dem Mittleren Osten und Afghanistan abgezogen werden und Platz für kleine, ständig verfügbare und vielfältig einsetzbare Expeditionstruppen machen, die kurzfristig eingreifen, diktatorische Regimes stürzen und Terroristen jagen, die westlichen Interessen schaden. Pape zählt auch die Invasion Afghanistans im Jahre 2001 zu einer erfolgreichen Offshore Balancing-Operation - bis zu dem Punkt, ab dem sie schließlich zu einer Übung in Sachen Staatsaufbau umgewandelt wurde.

Immer noch gibt es Politiker und Militärs, die davon überzeugt sind, dass Länder über eine Bruchstelle verfügen, sodass nur genügend Kraft aufgewendet werden muss, um die Aufständischen zur Aufgabe zu zwingen. Während des Vietnamkriegs bestand Henry Kissinger darauf, dass eine "viertklassige Macht wie Nordvietnam eine Bruchstelle haben muss" und sprach sich für eine Intensivierung der Luftbombardements auf Nordvietnam aus.

Diese Idee eines Bruchpunktes stammt aus der pseudo-wissenschaftlichen Kriegstheorie des 18. und 19. Jahrhunderts, die stark vom Zeitalter der Aufklärung beeinflusst wurde und deren prominentestes Beispiel Carl von Clausewitz' Werk Vom Kriege ist, demzufolge nach gängiger Lesart entscheidendes Handeln oder eine Reihe von "Hammerschlägen", die den Willen des Gegners brechen, zum Sieg führen. Was jedoch nur Wenige wissen, ist, dass Clausewitz vor einer Konstellation warnte, in der der neuralgische - politische und militärische - Punkt des Gegners nicht oder nur unvollständig ausgemacht oder zerstört werden kann.

Das Ergebnis könnte dann ein "formenloser Krieg" sein, ein bewaffneter Konflikt ohne auszumachende Feinde und erklärte Kriegsziele. Als Clausewitz dies schrieb, bezog er sich auf das Blutbad des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648), der ganze Landstriche in Mitteleuropa entvölkerte und hauptsächlich von Banden privater Söldner geführt wurde. Offene Feldschlachten waren selten und brachten meistens keine Entscheidungen. - Eine Gefahr, die bei Beibehaltung der "Bruchstellen-Strategie" auch in Südasien sowie im Nahen Osten droht.

Für die jetzigen Kriege in Afghanistan und im Irak muss die logische Schlussfolgerung der Militärs lauten, dass man inmitten eines Aufstands die Bevölkerung nicht für sich gewinnen kann. Sie kämpfen, weil wir dort unten sind! Die Fortführung oder gar eine Verstärkung der Truppenpräsenz der USA bzw. der Nato würde nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass mehr Menschen die Waffen gegen die Alliierten erheben.

Kommen wir wieder auf unsere Episode aus dem Bürgerkrieg der USA im April 1865 zurück: Einige Tage vor Lees Kapitulation in Appomattox wurde er von einem seiner Leutnants auf die Möglichkeit eines Guerilla-Feldzugs gegen die Invasoren aus dem Norden im Territorium von Virginia angesprochen. Lee wies ihn scharf zurecht und sagte, dass er zu alt und ein zu guter Christ sei, um sich in den Büschen wie "Kaninchen oder Rebhühner" herumzutreiben. Er zog es vor, sich zu ergeben, anstatt Widerstand zu leisten, da er um den fürchterlichen Preis wusste, den der Süden für einen Sieg bezahlt hätte.

Dies steht in deutlichem Kontrast zu den fanatischen Revolutionären der Gegenwart: Eine ununterbrochene Abfolge unerbittlicher Kriege hat in Afghanistan und Irak den Typus eines verbisseneren und vielschichtigen Aufständischen erzeugt, der kurzfristig wohl kaum - siehe die jüngsten Ereignisse in Kabul - den Weg alter Kriegsveteranen in den Ruhestand antreten wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.6.2011)