Es war Nachmittag in Taiwan und China, kurz nach zwei Uhr, als ich am 22.6. mit Ai Weiweis älterer Schwester Gao Lingling telefonierte. Zu dieser Zeit hatten sie und die ganze Familie immer noch keine Nachricht von ihm. Die Verbindung klang ganz normal. Wir sprachen ungefähr eine halbe Stunde. Es ging um New York, wo ich mit Ai Weiwei Ende der 80er Jahre und Anfang der 90er Jahre oft beisammen war. Ich hatte auch noch einige Fragen an sie. Denn ein Verlag in Taiwan hat mich beauftragt, ein Buch mit Texten und mündlichen Aussprüchen von Ai Weiwei zusammenzustellen.

Die Nachricht von der Freilassung

Gegen Abend tauchte die Nachricht von Ai Weiweis unmittelbar bevorstehender Freilassung im Internet auf, zuerst in den chinesischen Mikroblogs, die in China im Gegensatz zu Twitter geduldet werden. Das bedeutete, dass es im chinesischen Medienapparat einen bestimmten eingeweihten Zirkel gab, der die Nachricht bereits verbreiten konnte. Um neun Uhr abends chinesischer Zeit (3 Uhr nachmittags in Europa) schickte mir ein Freund eine E-Mail und teilte mir mit, dass die offizielle chinesische Nachrichtenagentur Xinhua (Neues China) gerade über die Nachricht berate, die sehr bald verlautbart werden sollte: Ai Weiwei werde unter bestimmten Bedingungen auf freien Fuß gesetzt. Um zehn Uhr mailte mir derselbe Freund den chinesischen und den englischen Text der Nachricht von Xinhua.

Um halb elf chinesischer Zeit wurde Ai Weiwei endlich freigelassen, er nahm ein Taxi zu seiner Wohnung bei seinem Atelier im Pekinger Künstlerbezirk Caochangdi. Er hatte stark abgenommen, das sah man sofort an den ersten Bildern. Wie alle anderen, die sich um ihn Sorgen gemacht hatte, konnte ich endlich aufatmen.

Wahrscheinlich kam Ai Weiwei in dieser Nacht kaum zum Schlafen. Seine Mutter und seine Schwester wussten ja schon länger, wie man die Internetkontrollen, die unter dem Namen Great Firewall of China bekannt sind, überwinden kann. Wahrscheinlich wollte Ai Weiwei sofort im Internet erfahren, was sich alles in den mehr als 80 Tagen ereignet hatte, in denen er festgehalten war. Internationale Nachrichten, aber auch chinesische Nachrichten waren ihm vorenthalten worden. Das hatte seine Frau gesagt, die ihn ja als einzige einmal ganz kurz in seinem unbekannten Gefängnis besuchen durfte. Ai Weiwei wollte jetzt sicher sofort wissen, was er versäumt hatte, wie die internationale Öffentlichkeit und die Medien auf seine Festsetzung reagiert hatten. Durch diese Reaktionen würde er einschätzen können, in welcher Situtation er sich jetzt befand und wie er dem Staatsapparat gegenübertreten sollte.

Ist Ai Weiwei wirklich frei?

Am 3. April, als Ai Weiwei am Pekinger Flughafen abgeführt worden war und verschwand, befand ich mich in Berlin. Kurz darauf reiste ich durch Ostdeutschland nach Tschechien, von dort in die Slowakei, dann nach Österreich und wieder nach Deutschland. Die Stationen waren Prag, Bratislava, Wien, München, Heidelberg und Bonn. In Prag war ich in Kontakt mit Vaclav Havel, Ivan Klima, Jachym Topol und anderen tschechischen Schriftstellern. Mit ihrer Hilfe setzte ich einen offenen Brief an den chinesischen Premierminister Wen Jiabao auf. Auch mit polnischen Schriftstellern, sowie mit Elfriede Jelinek, Herta Müller und anderen deutschsprachigen Schriftstellern war ich in Kontakt. Sie zeigten sich alle betroffen und in Sorge um Ai Weiwei, deshalb wollten sie ebenfalls durch verschiedene Aktionen die chinesische Regierung zu seiner Freilassung bewegen. Allein in den deutschsprachigen Ländern bemühten sich tausende Künstler und Schriftsteller um ihn. Nun sind wir alle froh über seine Freilassung. Doch diese Freude ist nicht ganz ungetrübt. Es bleibt eine Frage: Ist Ai Weiwei wirklich frei?

Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums gab vor aller Welt bekannt: Ohne Erlaubnis darf Ai Weiwei seinen Wohnort nicht verlassen. Bereits am Tag seiner Freilassung hat Ai in einem Telefongespräch mit ausländischen Berichterstattern gesagt, dass die chinesische Staatssicherheit ihn nur unter der Bedingung freiließ, dass er keine Interviews geben dürfe, und sich auch nicht im Internet an die Öffentlichkeit wenden dürfe, "mindestens ein Jahr". Ai Weiwei bringt sogar schon wieder den für ihn typischen Humor auf: "Ihr könnt mich anrufen und mich alles fragen und ich kann in den Hörer schweigen, weil ich nicht ein Wort sagen darf."

In den Bestimmungen des Strafgesetzes in China zu bedingter Freilassung von Angeklagten sind unter Paragraph 56 vier Punkte festgelegt, die auch Ai Weiwei nun ein Jahr lang einhalten muss:

1) Er darf die Stadt nicht ohne Genehmigung verlassen.
2) Er muss sich bereithalten und bei entsprechender Benachrichtigung sofort vor Gericht erscheinen.
3) Er darf in keiner Weise Zeugen beeinflussen.
4) Er darf kein Beweismaterial vernichten und auch nichts verbreiten, was die Beweislage beeinflussen könnte.

Die Freiheit, die Ai Weiwei vor seiner Festnahme hatte, wird er in dieser Situation keineswegs genießen können. Es ergeben sich weitere Fragen. Kann sich Ai Weiwei in Peking frei bewegen? Darf er sich mit seinen Rechtsanwälten beraten, und dürfen seine Rechtsanwälte öffentlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen der Steuerhinterziehung Stellung nehmen? Wird er erreichen können, dass die restlichen drei von den vier Mitarbeitern seines Ateliers, die mit ihm zusammen festgenommen worden waren, freigelassen werden? Es handelt sich um den Pressesprecher und Reporter Wen Tao, den Buchhalter Hu Mingfen und den Designer Liu Zhenggang. Der Fahrer Zhang Jingsong ist bereits frei.

Ausweg: Exil

Ich kenne Ai Weiweis Temperament. Ohne freimütige Interviews, ohne scharfe und direkte Kritik an der Regierung, ohne seine Botschaften auf Twitter, ohne Blog, ohne die Möglichkeit, an internationalen künstlerischen Veranstaltungen teilzunehmen, wie lange kann er es in dieser Lage aushalten? Ohne diese Freiheit, die er so virtuos zu nützen verstand? Wird Ai Weiwei echte Freiheit nur um den Preis des Exils erreichen können?

Wenn irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem man ihn ausreisen lässt, um eine Ausstellung zu verwirklichen, wird er dann wieder zurück können? Wird er keine andere Wahl haben, als ein Exilkünstler zu werden? Diese Fragen werden uns von nun an bewegen. (Bei Ling, derStandard.at, 27.06.2011)