Helmut Neundlinger, geb. 1973 in OÖ, freier Publizist, lebt seit 1992 in Wien. Studium der Philosophie, Germanistik. Promotion über Phettbergs Predigtdienste ("Tagebuch des inneren Schreckens", Klever, 2009). Seit 2006 macht er Netzwerkanalysen von Fußballspielen für den Standard.

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Unangefochtene Torschützenkönigin: Nina Burger, geb. 1987, ist Profikickerin und Polizistin im neunten Bezirk.

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Stellen Sie sich vor, es ist Fußball: Die Mädels spielen, und die Burschen schauen zu. Verkehrte Welt? Nicht an diesem Montagvormittag Ende Mai am Hirschstettener Sportplatz in Wien-Donaustadt. Auf dem Rasen kämpfen die Teams der Gymnasien Polgarstraße und Gerasdorfer Straße um den Einzug ins Bundesfinale der seit 2008 existierenden Postliga Mädchenfußball. Ihre männlichen Schulkollegen haben hinter den Toren Aufstellung genommen und hüpfen und singen sich in einen ausgelassenen Taumel. "Ist das hier der Hooligan-Sektor?", brüllt einer der Burschen, während er auf die anderen zuläuft.

Der Hooligan-Faktor der Zuschauerschaft bewegt sich während des Spiels abgesehen von ein paar Krakeelergesten deutlich unter der Wahrnehmungsschwelle. Die phasenweise erdrückende Dominanz der Polgarstraßen-Girls trägt das Ihre zum entspannten Verlauf der Partie in und außerhalb des Spielfelds bei. Einzig die fulminanten Paraden der Gerasdorfer Torfrau halten das Spiel länger am Köcheln, als den Favoritinnen lieb ist. Am lautesten wird es, als Karlheinz Piringer, Fußballlehrer am Gymnasium Polgarstraße, eine seiner Spielerinnen von der Seitenlinie aus kritisiert. Deren energischen Widerspruch lässt sich der engagierte Coach nicht bieten: Er schickt die junge Dame vorzeitig zum Duschen. "Er hat mich geschimpft, weil ich zu früh aufs Tor geschossen hab", erklärt die nach dem 5:0-Finalerfolg wieder versöhnte Stürmerin Yvonne Frey: "Da hab ich mich gewehrt." Den Einwand, dass ihr Trainer in der Sache wohl recht hatte, schmettert sie mit verblüffender Entschiedenheit ab: "Dann hätte ich ja den Ball an die Verteidigerin verloren."

Dass die Mädchen aus der Polgarstraße derzeit wienweit nicht zu knacken sind, hat einen handfesten Grund: Das Gymnasium verfügt über eine eigene gemischte Fußballklasse. Zusätzlich trainieren und spielen einige der Spielerinnen in Vereinen oder in den Nachwuchszentren des Wiener Fußballverbandes. Die Selbstverständlichkeit, mit der die 13-, 14-jährigen Mädchen Fußball spielen und reflektieren, ist Frucht einer geduldigen Aufbauarbeit, die in Österreich seit einiger Zeit auf vielen Ebenen im Gang ist. Eine wilde Mischung aus Top-down-Prozess und Graswurzelinitiativen, Spitzen- und Breitenförderung, Euphorie und Frustration hat den hiesigen Frauen- und Mädchenfußball erfasst. "Die Zahl der Aktiven hat sich in den vergangenen fünf Jahren fast verdoppelt", sagt Isabel Hochstöger. Die 28-jährige Linzerin ist selbst ehemalige Nationalteamspielerin und managt seit 2005 die Belange des Frauen- und Mädchenfußballs im Österreichischen Fußballbund. "Derzeit halten wir bei ungefähr 17.000 vereinsmäßig organisierten Spielerinnen." Am Bewerb der Postliga Mädchenfußball nehmen laut Hochstöger bundesweit mittlerweile 163 Schulen teil. "Zu Beginn war ich selber skeptisch. Aber es ist uns in der kurzen Zeit gelungen, den Mädchenfußball in die Schulen zu tragen. Die Spiele beim Bundesmeisterschaftsfinale schauen echt nach Fußball aus!"

Der Bewerb hat sich quasi zum Selbstläufer entwickelt. Erst neulich, so Hochstöger, habe ihr ein Lehrer erzählt, wie das Mädchenteam an seiner Schule zustande gekommen sei: "Einige Mädchen haben unser Postliga-Plakat mit den fußballspielenden Mädchen auf der Aushangtafel entdeckt. Daraufhin haben sie im Konferenzzimmer angeklopft und den Lehrer zur Rede gestellt: 'Sie trainieren nur die Buben - warum nicht auch uns?' Seine Antwort: 'Wenn ihr mir bis Ende der Woche 15 Mädchen bringt, bin ich euer neuer Trainer!' Zwei Pausen später klopfte es wieder an der Tür. Da war eine Horde von 20 Mädchen, und die Kleinste hat gerufen: 'Wir sind mehr als 15, und Sie sind jetzt unser Trainer!'"

Lange Zeit im Abseits

Die Geschichte des Frauenfußballs in Österreich: lange Zeit ein einziges Abseits, um in der Fachsprache zu bleiben. Dabei hatte dieses Land - ähnlich wie bei den Herren - bereits in der Zwischenkriegszeit eine kontinentale Vorreiterrolle mit kuriosen, fast vergessenen Entwicklungsschüben inne. 1921 etwa panierte das Damenteam des Wiener Traditionsvereines Rapid Oberlaa im Rahmen eines Pfingstturnieres im niederösterreichischen Götzendorf an der Leitha eine Seniorentruppe sensationell mit 14:3. 1924 bildete sich unter der Regie einiger Sportjournalisten eine Art Farm-Team unter dem Namen DFC Diana mit eigenen Trainingskursen und der wohl ersten Fußballtrainerin namens Pipsi Krema, wie der Wiener Kulturwissenschaftler Matthias Marschik in seiner Studie Frauenfußball und Maskulinität (LIT-Verlag, 2003) berichtet. 1936 wurde in Wien - gegen den Widerstand des austrofaschistischen Regimes - sogar ein Ligabetrieb mit insgesamt neun Teams aufgenommen. Der Spielstil der Frauen orientierte sich Zeitungs- und Radioberichten zufolge am technisch versierten Kurzpassspiel des Herren-Wunderteams und stieß auf große Anerkennung. Bis zu 3000 Zuseher zollten dem femininen Scheiberlspiel aufmerksame Anerkennung. Bei aller Pionierstimmung hatte und hat der Frauenfußball damals wie heute mit geschlechtsspezifischen Vorurteilen zu kämpfen: Auch in der Leckerbissenvariante des Wunderfußballs galt der Sport als männlich - und Frauen, die ihn praktizierten, als "unweiblich". Und so bekämpfte die Öffentlichkeit die spielenden Frauen mit einer absurden Kombination aus ästhetischen ("Mannweiber!") und medizinischen Argumenten ("Fußball schädigt die Gebärmutter!").

Unterm Nationalsozialismus verschwand der Frauenfußball vollends. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es lange, bis sich Frauen wieder auf den Rasen trauten. Zu Beginn der 1970er-Jahre formierten sich erste Teams, 1972 setzte ein zunächst noch provisorischer Meisterschaftsbetrieb ein. 1982 übernahm der ÖFB die Organisation und Durchführung der Frauenliga. Den wenigen aktiven Kickerinnen erging es in der öffentlichen Wahrnehmung kaum besser als ihren Vorkämpferinnen in der Zwischenkriegszeit. Auch sie wurden oft im besten Fall belächelt und im schlimmsten Fall als "Kampflesben" verspottet. 1990 wurde endlich ein eigenes Frauennationalteam ins Leben gerufen, das jedoch noch bis 1995 auf sein erstes offizielles Bewerbsspiel warten musste.

Für die am 26. Juni beginnende Weltmeisterschaft im Frauenfußballwunderland Deutschland konnte sich das ÖFB-Nationalteam zwar nicht qualifizieren, aber mit einem 1:1 im Freundschaftsspiel gegen das bei der WM teilnehmende Team der Nigerianerinnen am 9. Juni haben Österreichs Frauen internationale Augenhöhe mehr als bloß angedeutet. "Ich glaube, dass der Frauenfußball in Relation zum Männerfußball in Österreich viel mehr erreichen kann", sagt ÖFB-Frauenteamchef Dominik Thalhammer. Der ehemalige Bundesliga- und Burschennachwuchstrainer wird ab Herbst auch die Mädchenfußball-Akademie in Sankt Pölten leiten - die bundesweit erste dieser Art. Wie ihre männlichen Altersgenossen sollen die Mädchen in einem fünfjährigen Oberstufeninternat zu fußballerischer und schulischer Reife herangebildet werden. "Ich erwarte mir durch diese Intensität einen Quantensprung", sagt Thalhammer. "Ziel ist es, bis 2016 zur europäischen Frauenfußballspitze aufzuschließen."

Diese Initiative des Fußballbundes stellt nicht zuletzt eine Reaktion auf Abwanderungstendenzen der vergangenen Jahre dar. Einige der talentiertesten Spielerinnen zwischen 15 und 17 wagten den Sprung nach Deutschland, um sich sportlich besser weiterentwickeln zu können. Allein in den Frauen- und Mädchenteams des FC Bayern München kicken zurzeit sieben Österreicherinnen.

Tatsächlich könnten in der Sankt Pöltener Akademie die größten Nachwuchshoffnungen zu einer Art goldenen Generation heranreifen. Zudem könnte der Potenzialverlust zu einem für die weitere Entwicklung entscheidenden Zeitpunkt abgefangen werden. "Bis 15 trainiert man gemeinsam mit den Burschen, das Training ist gut", erzählt etwa Katharina Aufhauser. "Die Burschen gehen nachher weiter in die Akademien - und das hat für die Mädchen bisher gefehlt." Die 1997 geborene Wienerin trainiert derzeit im Landesausbildungszentrum (LAZ) im Wiener Praterstadion und spielt als einziges Mädchen im U-14-Team des Wiener Sportklub. Aufgrund ihrer Dribbelstärke und spielerischen Übersicht gilt sie als eines der größten Talente im Wiener Fußball. Aufhauser wird ab Herbst die Akademie in Sankt Pölten besuchen und in das zweite Team des SV Neulengbach wechseln. Das Team aus dem Wienerwald hat soeben zum neunten Mal hintereinander die Bundesliga-Meisterschaft für sich entschieden und gehört zu den Top 16 in Europa. "Mein Ziel ist, mit 16 in die Kampfmannschaft von Neulengbach zu kommen, Meister zu werden und in der Women's Champions League zu spielen", formuliert Aufhauser ihr ehrgeiziges Programm. Robine Schunerits, Spielmacherin des Teams im Gymnasium Polgarstraße und ab Herbst vermutlich auch in Sankt Pölten, nennt nicht nur fußballerische Motive für ihren Wechsel nach Niederösterreich: "Das Training muss gut sein, aber es muss auch lustig sein. Und das wird es sicher auch."

Eine Spur entspannter

Vielleicht ein positives Vorurteil: dass es bei den Frauen eine Spur entspannter und weniger verbissen abgeht als bei den Männern. Zusätzlich zur Lust an der Sache werden die Akteurinnen wie die Verantwortlichen im Frauenfußball auch weiterhin einen sehr langen Atem benötigen. Weder die wachsende Begeisterung noch das mediale Aufsehen rund um das WM-Turnier im nördlichen Nachbarland können über die gravierenden infrastrukturellen Probleme hinwegtäuschen. Die beginnen bei den Berührungsängsten der Turnlehrerinnen mit dem runden Leder und enden bei der Tatsache, dass der Frauenfußball in Österreich nach wie vor Amateurstatus hat. Dementsprechend bescheiden sind die finanziellen Mittel und die Trainingsmöglichkeiten. Die allermeisten kickenden Mädchen und Frauen verdienen nicht nur kein Geld, sondern zahlen in der Regel auch noch drauf - in Form von Mitgliedsbeiträgen, Fahrt- und Verpflegungskosten. In der öffentlichen Wahrnehmung ist die kollektive Ignoranz von einem scheinbar wohlwollenden, hochproblematischen Sexismus abgelöst worden. Ballesterisches "role model" ist nicht mehr die kurzhaarige Mannfrau, sondern das "sexy looking girl", das sein Outfit am PR-Mainstream der Kontrollgesellschaft orientiert. Angesichts dieser Ausgangslage gilt für alle Beteiligten das Motto: Fußball ist, wenn sie trotzdem spielt.

Und wie sie spielt, die österreichische Kickerin: egal ob im Nationalteam, ob in der ÖFB-Bundesliga oder in einem der immer zahlreicher werdenden Hobbyteams. Fußballerinnen werden nicht nur mehr, sondern spielen und trainieren trotz prekärer Ausgangslage auch öfter. "Als ich mit 14 zum Bundesligateam von Union Kleinmünchen gestoßen bin, haben wir einmal in der Woche trainiert, sind damals aber immer Meister geworden", erzählt Isabel Hochstöger. "Wir haben in jedem Spiel mit der gleichen Aufstellung gespielt, und fast immer hat es dieselben Wechsel gegeben." "Damals" war Mitte der 1990er-Jahre.

Heute trainiert eine Bundesligaspielerin mindestens dreimal wöchentlich - und das auch jenseits der Akademie, teils mit sportwissenschaftlicher Unterstützung. Die Neulengbacher Meisterinnen etwa werden seit Herbst von der ehemaligen Neulengbach-Spielerin Sabine Brand im Verbund mit Johannes Uhlig trainiert. Bevor der hauptamtlich am Wiener Universitätssportinstitut tätige Sportpädagoge in den Wienerwald wechselte, coachte er zwei Jahre lang erfolgreich das U-17-Nationalteam der Mädchen. "Im österreichischen Frauen- und Mädchenfußball gab und gibt es starke Defizite im konditionellen und taktischen Bereich", erklärt Uhlich. Mit systematischer Aufbauarbeit und individuellen Programmen konnte er seinem Team heuer auf beiden Ebenen entscheidende Vorteile verschaffen. Uhlig kann sich in seiner anspruchsvollen Arbeit auf die bedingungslose Lernwilligkeit seiner Spielerinnen verlassen: "Am Donnerstag gibt es vor dem regulären Training die Möglichkeit eines halbstündigen freiwilligen Spezialtrainings. Im Frühjahr waren da immer 20 Spielerinnen auf dem Platz. Gerade dadurch hat sich enorm viel entwickelt." Uhlig, der in früheren Jahren als Coach im Burschennachwuchs der Austria und der Admira tätig war, ortet die Geschlechterdifferenz nicht in fußballerischen, sondern in sozialpsychologischen Belangen: "Mädchen sind sensibler, was das Gruppengefüge im Allgemeinen und die Frage der Gerechtigkeit im Besonderen betrifft. Wenn sie etwas ungerecht finden, lassen sie mich das viel stärker spüren, als Burschen das tun würden."

Während der durchschnittliche männliche Bundesligaprofi in den ausgedehnten Trainingspausen seinen schweren Nöten nachhängt, bedürfen seine Kolleginnen einer oft ausgeklügelten Logistik, um ihrer zeit- und kraftraubenden Leidenschaft nachzugehen. Die 1987 geborene Nina Burger etwa, Stürmerin im Nationalteam, beim Serienmeister SV Neulengbach und seit Jahren unangefochtene Torschützenkönigin der höchsten Spielklasse, ist im wirklichen Leben seit eineinhalb Jahren Polizistin im neunten Bezirk. Das sogenannte Radl mit abwechselnden Tag- und Nachtdiensten hätte ihrer Karriere beinahe ein Ende bereitet. "Zum Training hab ich oft nicht kommen können, und fürs Match hab ich schauen müssen, dass ich freikrieg", erzählt die Niederösterreicherin. Erst als ihr Chef Wind davon bekam, dass seine neue Mitarbeiterin zur Elite des österreichischen Frauenfußballs gehört, wurde sie in den trainings- und matchkompatiblen Wechseldienst versetzt.

Burgers 1994 geborene Teamkollegin Cornelia Sochor bastelt derzeit nicht nur an ihrem Sprung in das Neulengbacher A-Team, sondern wird nächstes Jahr im Gymnasium der Schulbrüder in Wien-Strebersdorf maturieren. Ihr dortiger Schwerpunkt: Sprachen. Stückzahl: vier. Ihr Lernpensum bewältigt Sochor auf den 60 Kilometer langen Autofahrten zum Training und retour. "Mir wird zum Glück nicht schlecht, wenn ich im Auto lese", sagt sie. Wie zum Beweis werden das heurige Abschlusszeugnis ausschließlich "Sehr gut" zieren.

Abschlusszeugnis "Sehr gut"

Trotz aller Härten überwiegen in den Erzählungen der Spielerinnen Freude und Motivation. Sochor etwa berichtet begeistert von einem Fanerlebnis, das in dieser Form in Österreich undenkbar wäre. "Als wir in der Champions League auswärts gegen die späteren Finalistinnen von Turbine Potsdam spielten, wartete ein deutscher Fan die ganze Nacht vor dem Hotel, nur um von uns Autogramme zu ergattern", erzählt sie stolz. So konnte sie auch das 0:7-Debakel gegen das übermächtige deutsche Team um Starkickerin und Nike-Model Fatmire "Lira" Bajramaj leichter verschmerzen. Die 1988 im Kosovo geborene und als Kind nach Deutschland übersiedelte Bajramaj wird sowohl von Katharina Aufhauser als auch von Sochor auf die Frage nach einem weiblichen Vorbild genannt. Sie verkörpert derzeit wie kaum eine andere Spielerin den neuralgischen Punkt, an dem sich der Mädchen- und Frauenfußball international befindet. Der Hype um Bajramaj verdankt sich der Faszination für ihre brillante Technik im selben Ausmaß wie der Inszenierung ihres Äußeren. So wie der englische Fußballstar David Beckham zur Ikone der Metro- bzw. Homosexualisierung des männlichen Körpers gemacht wurde, scheint Bajramaj über ihr Outfit die mediale Heterosexualisierung des Frauenfußballs einzuleiten. Ob das den Frauenfußball aus seinem Nischendasein befreien wird, darf bezweifelt werden. Für die Entwicklung nachhaltiger Strukturen sind solche kurzfristigen Hysterien ohnehin zu wenig. (Helmut Neundlinger, DER STANDARD, Printausgabe 25./26.6.2011)