Monika Maier (57) ist Geschäftsführerin des Dachverbands Selbsthilfe Kärnten und Mitglied der bundesweit agierenden Arge Selbsthilfe Österreich.

Monika Maier von der Arge Selbsthilfe Österreich will die Unabhängigkeit der bundesweiten Organisation absichern.

Foto: Heribert Corn

Es gibt 250.000 chronisch Kranke in Österreich. Warum Selbsthilfegruppen im Gesundheitssystem zunehmend wichtig sind, erklärt die Expertin Monika Maier. Ein Gespräch über Macht, aufgezeichnet von Karin Pollack.

Standard: Die Zahl chronisch Kranker steigt, die Gesundheitsausgaben schrumpfen. Sind die vielen Selbsthilfegruppen Ausdruck einer Versorgungskrise?

Maier: Patienten müssen immer mehr um ihre Rechte kämpfen. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass das gemeinsam besser gelingt. Die zahlreichen Neugründungen sind auch Ausdruck von fehlenden Rahmenbedingungen, die für chronisch Kranke wichtig wären. Ärzte behandeln zwar, haben aber immer weniger Zeit für Gespräche. Die Diagnose einer chronischen Erkrankung hat ja schwerwiegende Folgen für den Alltag.

Standard: Fällt das in die Zuständigkeit der Ärzte?

Maier: Nein, aber genau darum geht es. In Zeiten, in denen familiäre Strukturen schwächer werden, springen unter anderen auch Selbsthilfegruppen ein, um bei Fragen wie "Kann ich weiter berufstätig sein?", "Muss ich mein Haus umbauen, weil ich bald nicht mehr gehen kann?" oder "Wie geht es mit der Beziehung weiter?" zu unterstützen. Das sind ganz relevante Probleme, die von der Medizin nicht abgedeckt werden. Die Patienten werden damit alleingelassen. Selbsthilfegruppen liefern Know-how zu Unterstützungsleistungen, Pflegegeld und ähnlichem. Unser Gesundheitssystem ist so komplex, dass Hilfestellung von zentraler Bedeutung ist. Aber auch der menschliche Erfahrungsaustausch in den Gruppen ist sehr wertvoll.

Standard: Wie viele Selbsthilfegruppen gibt es in Österreich?

Maier: Derzeit 1654. Achtzig Prozent davon im Gesundheitsbereich, besonders stark vertreten sind chronische Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs. Aber auch Selbsthilfegruppen von Angehörigen, zum Beispiel behinderter Kinder, Alzheimer-Kranker oder psychisch Kranker nehmen zu.

Standard: Was braucht eine intakte Selbsthilfegruppe?

Maier: Es klingt ja immer so, als ob Selbsthilfe etwas wäre, was man selbst tut. Aber so ist es ja nicht. Man braucht einen Raum für die Treffen, eine institutionell verankerte Struktur und eine entsprechende Infrastruktur wie Computer und Telefon. Beratung und Unterstützung sind da wichtig. Zudem sind chronisch Kranke oft sehr belastet. Es gibt schwierige Situationen, in denen eine professionelle Begleitung durch Psychologen hilfreich ist. Schlussendlich geht es aber auch um Geld für simple Dinge wie das Erstellen und Drucken von Broschüren. Mit Öffentlichkeitsarbeit erleichtert man anderen Betroffenen den Zugang zur Selbsthilfegruppe.

Standard: Wie ist die Finanzierung derzeit geregelt?

Maier: In den Bundesländern unterschiedlich, es gibt keine einheitlichen Strukturen. Für die bundesweiten Selbsthilfeorganisationen gibt es kaum Förderung, obwohl dies im Regierungsübereinkommen sogar festgelegt wurde. Aber gerade das wäre wichtig, um in den Entscheidungsgremien mitreden zu können. Es gibt österreichweit 250.000 chronisch Kranke, die sich zu Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen haben. Mir kommt fast vor, dass die Politik gezielt darauf achtet, keine einheitliche Stimme entstehen zu lassen. Jedenfalls sind die bundesweiten Gremien stark unterdotiert. Die Selbsthilfe steht ja mächtigen Playern im Gesundheitssystem gegenüber.

Standard: Wie meinen Sie das?

Maier: Zum Beispiel der Ärztekammer, das ist ein mächtiger Apparat. Was mich ärgert: Die Ärztekammervertreter behaupten gerne, sie vertreten die Interessen der Patienten. Aber das tun sie ja nur bedingt. Sie vertreten in erster Linie ihre eigenen Interessen und erst dann die der Patienten. Wir könnten durchaus für uns selbst sprechen, denn an sich ist Selbsthilfe sehr basisdemokratisch organisiert. Wir brauchen aber Rahmenbedingungen, um mit anderen Playern mithalten zu können.

Standard: Wie stark ist die Gefahr, dass Selbsthilfegruppen instrumentalisiert werden?

Maier: Ich bin da sehr kritisch. Ein Trend der letzten Zeit ist, dass sich die Marketingabteilungen der Pharma-Industrie hinter Agen- turen verstecken, die ihre Veranstaltungen als Information oder Meinungsbildung tarnen. Meistens finden Kampagnen statt, wenn neue Arzneimittel vor der Zulassung stehen. Für Nichteingeweihte ist es sehr schwer, den Auftraggeber dahinter auszumachen.

Standard: Was wäre eine Lösung?

Maier: Zum einen Transparenz, denn damit schließt man eine Irreführung der Patienten aus, zum anderen: eine Poolfinanzierung, also ein Topf, in den zweckungebunden eingezahlt wird. Die Selbsthilfe in den Bundesländern ist ganz gut aufgestellt, die bundesweiten Organisationen hingegen sind stark unterdotiert. In Deutschland gibt es für Selbsthilfe Fördermodelle, die ihre Unabhängigkeit sichern. Das wäre auch bei hier bei uns in Österreich wirklich wichtig.

Standard: Wie bringt sich die Industrie ein?

Maier: Positiv, die Pharmig hat in einem Verhaltenskodex detailliert festgelegt, wann und wie Selbsthilfegruppen unterstützt werden können. Ob die Einhaltung dieser Richtlinien kontrolliert wird, kann ich nicht beantworten.

Standard: Wo ist die Arge Selbsthilfe heute schon präsent?

Maier: In zahlreichen sozial- und gesundheitspolitischen Gremien. Der Hauptverband organisiert einen Selbsthilfegipfel, damit die Gruppen ihre Anliegen einbringen können. Erfreulich ist, dass immer mehr Ärzte mit Selbsthilfegruppen kooperieren, weil die Erfahrungskompetenz von Betroffenen das Fachwissen gut ergänzt. Aber es ist sicherlich noch viel Überzeugungsarbeit notwendig, damit die Selbsthilfe den Stellenwert bekommt, den sie verdient. Wir wollen mitreden und noch viel stärker in Entscheidungen eingebunden sein.

Standard: Was ist für Sie ein mündiger Patient?

Maier: Der informierte Patient weiß umfassend über seine Erkrankung Bescheid, Selbsthilfegruppen sind ja auch eine Art Informationspool, weil dort Erfahrungen gesammelt werden. Der informierte Patient trifft dann zusammen mit dem Arzt Entscheidungen zur Behandlung. Ein mündiger Patient ist aber nicht nur gut informiert, sondern kennt auch seine eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten, kann sie artikulieren. Diese Art der partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung setzt einen Paradigmenwechsel voraus. Es ist ein Prozess, der im Gange ist. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 27.6.2011)