Leslie Howard, geboren 1948 in Melbourne, ist Konzertpianist, Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler. Er lebt in Großbritannien.

Foto: Liszt-Fest

Mit Howard sprach Daniel Ender.

Standard: Sie sind wohl der einzige Mensch, der das Gesamtklavierwerk von Franz Liszt gespielt hat. Was hat Sie bei seiner Musik bei der Stange gehalten?

Howard: Liszt selber hat ja die meisten seiner Stücke gar nie öffentlich aufgeführt, obwohl er vielleicht viele für sich durchgespielt hat. Diese Zurückhaltung wird von seinen Kritikern oft übersehen. Wie bei jeder guten Musik gibt es auch bei ihm immer noch mehr zu entdecken, auch innerhalb eines Stücks, das man schon studiert hat. Liszts Vielfalt in der Textur, die harmonische Fantasie, seine Fähigkeit, in kleinen thematischen Zellen zu denken, obwohl er auch große Phrasen schreiben konnte - all das fasziniert mich noch immer.

Standard: Wann ist Liszt an Ihrem Horizont erscheinen?

Howard: Einiges von seiner Musik war in meinem Kopf, lange bevor ich wusste, dass es von Liszt war! Les Préludes und die 2. Ungarische Rhapsodie waren in mir, lange bevor ich lesen und schreiben konnte. Gespielt habe ich aber erst etwas von ihm, als ich 13 war, denn erst da waren meine Hände groß genug!

Standard: Man könnte über Liszt, den Salonmusiker, Liszt, den Schöpfer von Paraphrasen, und Liszt, den Visionär, sprechen. In welchem Bereich hat er denn mengenmäßig am meisten geschrieben?

Howard: Liszt war vielleicht in seinen jüngeren Jahren ein Salonmusiker, aber nicht als Komponist. Sogar im Grand Galop chromatique, den er während der Jahre als reisender Künstler oft spielte, blitzen avantgardistische Harmonien und Ganztonleitern auf. In seinen Opernparaphrasen gelangen Liszt mehrere Kunststücke gleichzeitig: Er förderte die Musik anderer Leute, entwickelte neue formale Ansätze, entwickelte eine Technik, die eine riesige Orchesterpalette andeutete. Und es gibt darin harmonische und kontrapunktische Schätze, die die Komponisten des Originals verblüfft hätten.

Standard: Lange Zeit wurde Liszt nur als oberflächlicher Virtuose betrachtet. Das scheint inzwischen der Vergangenheit anzugehören, aber einige Vorurteile kursieren diesbezüglich schon noch. Was ist denn aus Ihrer Sicht und in Ihren Händen Funktion der Virtuosität?

Howard: Nur Neider und Unwissende konnten Liszt jemals als "oberflächlichen Virtuosen" abstempeln! Nicht einmal seine Feinde Hanslick oder Clara Schumann haben das getan. Alle ernsthaften Komponisten haben Liszt ernst genommen: seine Zeitgenossen, die seine Werke gut kannten, wie Berlioz. Aber auch Chopin und Mendelssohn, die eher skeptisch waren, obwohl er ihnen in seiner Weimarer Zeit oft geholfen hat. Virtuosität im unverfälschten Sinn ist ein Qualitätsmerkmal beim Musizieren. Die Idee, dass es besser wäre, Musik würde irgendwie ohne eine solide Technik funktionieren, nur aus ästhetischem oder analytischem Verständnis - das wäre dumm.

Standard: In Ihrer CD-Box mit Liszts gesamtem Klavierwerk gibt es mehrere hundert Ersteinspielungen. Welche sind die interessantesten unter ihnen?

Howard: Unmögliche Frage! Aber vielleicht sind die vielen frühen Versionen von späteren Meisterwerken etwas vom Faszinierendsten. Viele Komponisten verschweigen ihre frühen Entwürfe, wollen uns glauben machen, dass ihnen große Werke so zugefallen sind - ohne lange Prozesse des Änderns. Liszt scheint nicht ein Blatt seiner Manuskripte vernichtet zu haben. Das hilft uns, sein Kompositionsverfahren nachzuvollziehen.

Standard: Sie haben (mit Worten des Kollegen Alfred Brendel) gemeint, es gäbe keinen Komponisten, den Sie lieber kennenlernen würden als Liszt. Worüber würden Sie reden?

Howard: Ich würde über seinen Glauben sprechen - für mich ein wichtiger Teil seines Charakters, ebenso wie der Witz und die Klugheit, die wir aus seinen Briefen kennen. Ich würde ihn auch fragen, warum er, der so viele Opern aufgeführt hat, nie eine eigene Oper vollendet hat. Vor allem aber würde ich gern wissen, wie eigentlich seine Sprechstimme geklungen hat.
(DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.6.2011)