Die Uferpromenade des Kadiköy Park auf der asiatischen Seite von Istanbul, wo junge Paare sitzen und sich küssen und küssen und küssen ...

Foto: Bernath

Küssen kann ungemütlich werden. "Als ich ein Teenager war, starrten uns die Leute an, als ob wir Sex in der Öffentlichkeit hätten", erinnert sich Aysun, heute eine 25-jährige Lehrerin, an ihre Jugend in der Provinzstadt Çanakkale an den Dardanellen. Doch knutschende Paare bekommen jetzt im Sommer auch in der Millionenstadt Istanbul mitunter Probleme. Kürzlich beschimpfte ein Busfahrer ein Studentenpärchen und sagte eben dies: "Das hier ist kein Ort für Sex." Und warf die beiden aus dem Bus.

Aysun, die in einem konservativen Außenbezirk von Istanbul unterrichtet, kümmert das heute nicht mehr. Sie küsst ihren Freund auf der Straße und trägt kurze Röcke. "Frau Lehrerin, Sie sollten nicht in diesen Kleidern herumlaufen", haben sie die Schüler schon gemahnt, erzählt sie und lacht. Dann haben die Buben in der Klasse untereinander eine Rauferei begonnen, weil doch nicht alle derselben Meinung waren.

Es gibt gewissermaßen eine Karte, einen Stadtplan von Istanbul mit den religiös-konservativen Vierteln, die Aysun und ihre Freundin Selcan meiden, ebenso wie viele andere liberal eingestellte junge Türken: Eyüp, Fatih, Kasimpaşa, wo der heutige Regierungschef Tayyip Erdogan aufgewachsen ist, Dolapdere, Außenbezirke der Einwanderer aus Anatolien wie Sultangazi - alle auf der europäischen Seite Istanbuls und eher ärmlich. Selcan, eine ebenfalls 25 Jahre alte PR-Managerin, wohnt in Bostanci, einem teuren Shopping- und Villenviertel auf der asiatischen Seite. "Mir ist nie etwas passiert", sagt sie, aber sie käme auch nicht auf die Idee, mit ihrem Freund in Eyüp spazieren zu gehen. Eyüp ist nicht Selcans Welt, sie managt Facebook-Seiten für große türkische Unternehmen und hat ihre eigene Jüngerschaft auf Twitter. Dennoch: "Wenn es ein langer Kuss ist, wird es ein Problem."

Die Dauer des Kusses ist definitiv ein wichtiger Faktor. Im 25T-Bus, der von Sariyer, weit im Norden, zum Taksim-Platz im Zentrum von Istanbul fährt, waren die Küsse offensichtlich zu lang und zu oft. Gegen den Fahrer, der sie beschimpfte, hat das Pärchen Beschwerde bei Istanbuls öffentlichen Transportunternehmen IETT eingelegt. Eine Woche später gab es einen "Kiss-in"-Protest mehrerer Studentenpaare auf derselben Linie. Keine Streitereien dieses Mal. Dass es allein zu einem solchen organisierten Protest kommen kann, ist für Selcan, ein Beleg dafür, dass Istanbul doch immer liberaler würde.

Geschichten über "Kuss-Vorfälle" aus zweiter und dritter Hand hört man schnell. Von einer jungen Frau mit Kopftuch, erzählt ein Bekannter Aysuns. Aufgebracht soll sie auf ein Pärchen zugestürmt sein, das sich am Beginn der Istiklal-Straße, der langen Einkaufsstraße im Zentrum Istanbuls, küsste. "Fühlen Sie sich komfortabel?", wollte die Frau wissen. Nicht wenige junge Männer, die aus dem Osten des Landes kommen, tun es in der Tat nicht. Man hält Händchen, küsst die Freundin auf die Wange und keinesfalls vor den Eltern. "Ich bin so erzogen worden", heißt es. Eine Frau, die man auf offener Straße küssen kann, gelte in den konservativen Städten Anatoliens geradezu als Prostituierte; auch der Mann wird dann angefeindet. "Die Leute würden dich verprügeln", sagt Aysun, die Lehrerin. Und warum das alles? "Weil sie es selbst nicht tun können, Männer wie Frauen. Küssen in der Öffentlichkeit geht nicht wegen ihrer Familien."