Foto: Centfox

Wien - Die zwei Gäste, die in einer Bar irgendwo in Argentinien genüsslich ihr deutsches Bier trinken, werden nervös. Denn der Fremde ohne Namen stellt unangenehme Fragen. Zu spät: Ein paar schnelle Bewegungen, und auf seiner Racheliste stehen zwei Nazis weniger. Wer er denn sei, will der eine noch wissen, und die passende Antwort heißt: "Let's just say I'm Frankenstein's Monster."

Dahinter steckt natürlich eine doppelte Ironie, denn nicht nur hat man in einer Urszene zu Beginn gesehen, was der Mann als Bub durch die Nazis erleiden musste. Außerdem hießen die legendären Marvel-Comics aus den 60er-Jahren früher auch The Uncanny X-Men, das Unheimliche bezog sich also auf jene Kreaturen, denen wie Frankensteins Monster die übermenschlichen Kräfte zum Fluch werden.

An diesem Paradigma hat sich im Lauf der Kinoserie, die mit Bryan Singers X-Men vor elf Jahren begann und seither zwei Fortsetzungen und ein Spin-off (Wolverine) hervorbrachte, nichts geändert: Die außergewöhnlichen Fähigkeiten der Superhelden, Folgen einer genetischen Mutation, haben zu deren Ausgrenzung aus der Gesellschaft und zu zwei verfeindeten Lagern geführt. Mit der oder gegen die Menschheit? Das vorläufige Ende ist seit X-Men: The Last Stand bekannt.

Weil die Evolution, wie der Telepath Professor Xavier (Patrick Stewart) am Beginn der X-Men-Serie erklärte, zwar alle paar Jahrtausende einen Sprung nach vorne macht, das Kino aber vor allem den täglichen Gesetzen des Marktes gehorcht, wurde es auch für die Mutanten höchste Zeit, in die eigene Vergangenheit zu blicken. Als sogenanntes Prequel setzt X-Men: First Class also dort ein, wo alles begann, im von den Nazis besetzten Polen.

Während man in X-Men über den weiteren Verlauf der Dinge bis in eine "nicht allzu ferne Zukunft" nur spekulieren konnte, konzentriert sich First Class also auf die Jugendjahre des friedfertigen Charles Xavier (James McAvoy) und des traumatisierten Erik Lehnsherr (Michael Fassbender) vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs. Die beiden Männer, die am Ende dieses Films bekanntlich zu erbitterten Kontrahenten werden müssen, kämpfen angesichts des drohenden, von Eriks ehemaligem Nazi-Peiniger Shaw (Kevin Bacon) angezettelten Dritten Weltkriegs vorerst für die gemeinsame Sache. Bis der von seiner Vergangenheit verfolgte Verfolger seinen charakteristischen Helm aufsetzt und zum ambivalent-traurigen Superschurken Magneto mutiert.

Regisseur Matthew Vaughn schlägt für diese Vorgeschichte im Gegensatz zum überhitzten Finale der Serie ein bedächtiges Tempo an, nimmt sich vor allem für Magnetos Metamorphose ausreichend Zeit und erliegt nur selten der Versuchung, die Superkräfte seiner Figuren als reinen Schauwert auszustellen. Doch ausgerechnet der zeitgeschichtliche Hintergrund der frühen 60er-Jahre, in denen Stan Lee und Jack Kirby die Serie entwarfen, ist First Class eine Bürde: Wo bisher die gesellschaftspolitischen Fragen nach Ausgrenzung und Assimilierung in einer nicht allzu fernen Zeit als Spiegel der Gegenwart verstanden werden wollten, verstören Kubakrise und Originalaufnahmen von Kennedys Fernsehreden als bloßer Hintergrund für die Auseinandersetzungen innerhalb der Parallelgesellschaft.

Zu schwer bestimmt das kollektive Gedächtnis die Geschehnisse in der Schweinebucht, als dass ein Mutant dort Raketensprengköpfe im Flug anhalten und Weltgeschichte umschreiben könnte. Aber mit historischer Genauigkeit haben Filme wie dieser ohnehin nichts am Hut: Demnächst erzählt uns das Prequel Rise of the Planet of the Apes wie es kam, dass Affen die Weltherrschaft übernahmen. (Michael Pekler, DER STANDARD - Printausgabe, 10. Juni 2011)