Es gibt keinen Grund für Israel, die Öffnung der Grenze von Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten übermäßig zu fürchten: Der Übergang ist weiter für Güter gesperrt, die auch zuvor schon vor den Augen der Weltöffentlichkeit durch die berühmt-berüchtigten Tunnels geschmuggelt wurden, darunter genau jene Raketen, denen die Blockade galt. Die statistisch "gefährlichste" Personengruppe (Männer bis vierzig) ist von der Liberalisierung ausgeschlossen. Und dass die Ägypter auf die Einhaltung der sonstigen Regeln schauen, zeigte der erste Tag des regulären Grenzverkehrs, an dem auch etliche Frustrierte im wahrsten Sinne des Wortes zurückblieben, nämlich hinter dem Grenzbalken.

Die Sorge in Israel kann sich also nicht so sehr auf das kleine Tor beziehen, das die Gaza-Bewohner zur Welt bekommen haben, sondern auf den Kontext, in dem das geschieht. Israelische Statements, die von einer "gefährlichen Entwicklung" sprechen, von "Schritten zu einer neuen regionalen Ordnung, die für Israel problematisch sind" , drücken das gut aus.

Der Kontext ist der des drohenden Scheiterns der israelischen Hamas-Politik, mit allen Konsequenzen für Israels Palästinenserpolitik insgesamt. Es wäre jedoch ungenau, den Grund dafür nur beim Zusammenbruch des ägyptischen Regimes von Hosni Mubarak und einer Neuorientierung Kairos zu suchen. Es ist richtig, dass Mubarak die israelische Gaza-Politik durch seine Kooperation - über deren Qualität sich die Israelis immer wieder beklagten - legitimiert hat. Aber auch ohne seinen Sturz wäre sie in Schwierigkeiten.

Ein atmosphärischer Umschwung, dem Israel selbst Rechnung trug, war nach dem Sturm auf das türkische Gaza-Hilfsschiff Mavi Marmara mit neun Toten vor genau einem Jahr zu beobachten. In der Folge musste Israel die Blockade etwas lockern. Und ein anderer, innerisraelischer Beweggrund für die Blockadepolitik ist ebenfalls eklatant fehlgeschlagen: Der vor fünf Jahren entführte israelische Soldat Gilad Shalit ist noch immer nicht zu Hause.

Der Fall Mubaraks brachte dann die Neuaufstellung der ägyptischen Außenpolitik, die zum Katalysator für die innerpalästinensische Versöhnung zwischen Fatah und Hamas wurde: Das Loch in der Mauer zum Gazastreifen in Rafah ist zugleich Voraussetzung und Folge davon. Und zu Israels großer Verunsicherung verdammen nicht einmal die USA diese Versöhnung mit Pauken und Trompeten und greifen auch nicht Israels Meinung auf, dass die Fatah und die Palästinensische Autonomiebehörde durch diese Versöhnung nicht mehr als "Friedenspartner" gelten können.

Der ägyptische Außenminister Nabil Elaraby wird als kommender Chef der Arabischen Liga zwar nicht schärfer sein als Amr Mussa - aber umsetzungsfreudiger, der neuen Außenpolitik Ägyptens entsprechend, das seine führende Rolle in der arabischenWelt zurückhaben will. Die Arabische Liga wird die Anerkennung der palästinensischen Unabhängigkeit in der Uno zu ihrer Sache machen.

Dass sich die USA in Ägypten finanziell engagieren, sollte eine Beruhigung für Israel sein, dass der Umbruch nicht total sein wird. Aber auch Ägypten selbst könnte etwas tun, um Israel zu beruhigen und zu engagieren: sich für eine Befreiung Shalits einsetzen. Auch er hat ein Recht, aus der Geiselhaft befreit zu werden, so wie die Bewohner des Gazastreifens es haben. (Gudrun Harrer/DER STANDARD, Printausgabe, 30.5.2011)