Die Luftigkeit und Flüchtigkeit der Sinnesempfindung in rhythmischer Sprachpräzision einfangen: Martin Kubaczek.

Foto: Standard/Robert Newald

"Traurig zergingen auf meiner Zunge die Sterne." So endete 2001 Martin Kubaczeks Strömung, ein tief in einen kraftvoll staunenden Sprachbildersog getauchtes, autobiografisch marmoriertes Rückblicksbuch über eine Kindheit in den 1960er-Jahren in Jedlesee im Nordosten Wiens.

Es war ein Buch voller Enden: dem Ende eines Gartens, dem Ende eines Überschwemmungsgebietes, dem Ende eines Spielgefährten, der bei einem Unfall ums Leben kommt. Bei Martin Kubaczeks Sorge. Ein Traum von 2009 war gleich zu Anfang des fiktional verfremdeten, ins Erfundene erweiterten biografischen Romans das Ende da, die Exekution des Protagonisten und Spions Richard Sorge.

Und jetzt, im neuesten Buch? Da heißt es ganz aufbruchsleicht: "Ich bin in meiner Jugend weit heruntergekommen. Kreuz und quer durch ganz Europa, sechs Jahre lang."

Doch im Handumdrehen ist der Anflug unbeschwerter Munterkeit verflogen. Denn hier spricht jemand nicht von heiteren Abenteuern und bunt kolorierten Reisehistorien. Vielmehr gehört die Stimme Martin Kubaczeks greisem Vater. Der vom Krieg erzählt. Von seinem Überleben in Russland und Italien. Wie er sich hochgewitzt durchschlug, ein ums andere Mal Entscheidungen traf, die ihm und einmal auch einem Trupp, dem befohlen worden war, mitten in einem Partisanengebiet italienische Widerstandskämpfer zu arretieren, das Leben sicherten. Und der immer wieder Zeit und Gelegenheit fand zu malen und zu zeichnen.

Einmal saß ihm eine eisern schweigsame Volksschullehrerin Modell, von der er später erfuhr, sie sei die für Organisation und Nachschub der Partisanen in jener Region Verantwortliche gewesen. Durch den unverstellt direkten mündlichen Erzählduktus wird jeder Anflug von Sentimentalität oder militaristischer Verklärung vermieden.

In drei Kapiteln, drei Bewegungen, drei Stimmen, durch drei Zeitkreise, drei Konterpart-Spiegelkammern führt dieses hochmusikalische Buch. Da ist der betagte Vater, inkontinent, gebrechlich, zart. Doch: Stammen seine Reminiszenzen wirklich aus seinem Munde? Oder sind es vielleicht nachträglich kunstvoll zusammengesetzte Erfindungen?

Gegen Letzteres sprechen einige sinnfällige Details, die vergessen, ausgelöscht, verschwunden sind. Da ist die noch rüstige Mutter, die ihn pflegt und ihm hinterherwischt, abwechselnd wütend, verzweifelnd, bedrückt ist ob seines Altersstarrsinns; und nicht zuletzt auch traurig über den Verlust der eigenen körperlichen Attraktivität, der schönen Knie etwa, auf die sie so stolz war. Und da ist schließlich der Sohn, der regelmäßige Besucher, Notateur, Hinterhausbewohner, Radfahrer und Brückenquerer (Brücken spielten schon in Strömung eine gewichtige Rolle), der genaue Beobachter, wortgewaltige Liebhaber des Optischen und emphatische Schilderer der Kunst von Joseph Mallord William Turner (1775-1851).

Denn das Schlusskapitel ist eine einzige Reise ins Helle, zur Kunst: nach London, in die Tate Britain, das älterer britischer Kunst reservierte Haus, in dem diesem Londoner Maler großer Platz eingeräumt ist (nach ihm wurde auch der wichtigste Preis für Gegenwartskünstler benannt). Doch besonders die Aquarelle haben es dem namenlosen Berichterstatter angetan. Deshalb lässt er sich einen speziellen Termin im Print and Study Room geben, um aus unmittelbarer Nähe zahlreiche Vorstudien für Turners so berühmte wie überwältigende drei Rigi-Bilder in Augenschein zu nehmen.

Waren schon die Szenen, Ereignisse, Erinnerungen des Vaters pittoresk und kurios, fassbar konkret und mit eindringlicher Sinnlichkeit eingefangen, so liest man in der Turner-Sektion, bei der es auch zu einer Fußwanderung entlang Suffolks Klippen kommt, einige der sprachlich betörendsten, ausschwingendsten Bildbeschreibungen der Gegenwartsliteratur.

Fast genau auf halber Strecke findet sich eine winzige, aber zentrale Szene: der Vater, mitten im Zimmer stehend, lächelnd. "Das bin nicht ich", ruft er, "das bin nicht ich, winkte er langsam. Der da, der da! - er deutete auf sich - ist ein anderer! Ich - ich bin schon unterwegs! Und er machte eine flüchtige, fächelnde Handbewegung in die Luft, als würde etwas davonflattern, fliegen."

Es fliegen alle Personen in diesem Buch. Ihnen widerfährt Überwältigung durch Glücksmomente, auf einer Brücke, in einem Ausflugslokal. Das Gravitierende ist zugleich das ablösende Moment, eines des Veränderns, Vergehens, Verschwindens, Auflösens. Und des Festhaltens. Transparenz und Transzendenz, körperlich und zwiefach artistisch.

Um das "Vage, Ferne, Fremdeste", um "Gefühle, Konstellationen" geht es Kubaczek, darum, "die Luftigkeit und Flüchtigkeit der Sinnesempfindung", wie es einmal heißt, in melodiösem Benennen, in großer rhythmischer Sprachpräzision einzufangen, zu fixieren. Um den Versuch, Farben, Formen, die Zeit und ihr vibrierendes Versickern zu verstehen, mit allen Sinnen.

Ist es gewagt, dieses schmale und intensive, virtuose und die Menschen würdevoll einfach zur Sprache kommen lassende Buch Martin Kubaczeks bisher schönstes zu nennen? Nicht im Geringsten. (Alexander Kluy, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 28./29. Mai 2011)