Emnuelle Pagano, "Bübische Hände". Roman. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. € 17,40 / 144 Seiten. Wagenbach, Berlin 2011

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Rund drei Jahrzehnte zurückliegende Grausamkeiten, die einer Grundschülerin von gleichaltrigen Buben angetan wurden, lasten wie ein Fluch aus einem alten Märchen auf dem Erinnerungsvermögen einer französischen Kleinstadt. Diese muss wohl im Département Ardèche im Südosten des Landes liegen, das für seine einzigartige, fruchtbare Naturlandschaft bekannt ist und in dem die Autorin Emmanuelle Pagano ihrerseits lebt. Die Natur als Rückzugsort, als Quelle der Inspiration spielt eine große Rolle in Paganos Romanen.

Über die Ardèche kann man nachlesen, dass sich in ihr einst die größte europäische Seidenproduktion befand, außerdem werden hier seit Jahrhunderten Edelkastanien kultiviert. Aus dieser Natur schöpft Pagano ihre Metaphern. In den melancholischeren Momenten ihres nun auf Deutsch erschienenen Romans aus dem Jahr 2008 Bübische Hände verbergen sich im nebligen Eichenwald silberne Einhörner hinter hauchfeinen Seidenfäden, und wissbegierige Mädchen versuchen zielstrebig, dem Geheimnis der Seidenraupe auf den Grund zu gehen.

Bei Pagano haben die meisten Buben von damals, die Täter, die nie zur Rechenschaft gezogen werden konnten, das Dorf verlassen. Nur ein ungleiches Brüderpaar ist geblieben und betreibt in erbitterter Konkurrenz zueinander seine Kastanienfelder. Ein Dritter ist mit der Zeit gegangen, hat auf Wein gesetzt und ist damit reich geworden. Die Gattin dieses aufstrebenden Winzers bricht als erste von vier Frauen das hartnäckige Schweigen über den Missbrauch im Treppenhaus der Schule vor dreißig Jahren. In ihrem "Herrenhaus" wird ein Empfang für die Klasse von damals ausgerichtet, und die Putzfrau dieses feinen Hauses ist ausgerechnet das Opfer von damals.

Die Ehefrau des einen, die Mutter des anderen, erwachsen gewordenen und scheinbar aus der Schuld herausgewachsenen Täters lassen ihre inneren Monologe um die Last der Erinnerung kreisen, außerdem eine alte Lehrerin und eine Tochter im Grundschulalter, die, so der ebenso grausame wie unoriginell forcierte Plot, zum zweiten Opfer werden soll.

Eine heikle Schuldfrage, kollektive Täterschaft und eine mythizistisch überhöhte Idee von sich fortpflanzender Schuld bilden den Kern dieses düsteren Gewissensromans. Dabei übernimmt Pagano perspektivisch den Ton des Verdrängens, arbeitet implizit mit Schweigen, Ablenkung, Auslassung.

Doch Bübische Hände wirkt in mehrerlei Hinsicht unentschlossen: Kontraste ebenso wie unentrinnbare Gemeinsamkeiten werden zunächst plakativ konstruiert, dann aber nicht in die erzählerische Textur verwoben.

Personen, die meist namenlos suchend um ihre "dunklen Geheimnisse" tasten, können sich nicht entscheiden, wer anzuklagen sei. Und nicht zuletzt die um Verstörung bemühten Monologe der vier höchst unterschiedlichen Erzählerinnen heben sich kaum nuancenweise voneinander ab und laufen immer wieder Gefahr, in Stereotypen und sogar Kitsch zu münden.

Manche aufwändig verschleiernd formulierte Episode entpuppt sich bei näherem Hinsehen leider nur als bescheidene Binsenweisheit - und die verknappende "écriture" Paganos ist durchaus anfällig für Klischees und vermag ihren u. a. mit der Verleihung des Europäischen Literaturpreises als "sinnlich" gelobten Zauber - zumindest in der deutschen Übersetzung- nicht zu entfalten. (Isabella Pohl/ DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.5.2011)