Der kritische Intellektuelle und Dichter Gaston Salvatore unterscheidet zwischen Revolutionären wie Che Guevara und Terroristen wie Bin Laden.

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Standard: Welche Haltung nehmen Sie als linker Intellektueller im Diskurs um Bin Ladens Tötung ein?

Salvatore: Natürlich darf man sich über den Tod eines Menschen nicht freuen, das ist eine ethische Frage. Aber ich befürworte das Vorgehen Barack Obamas. Ich finde richtig, dass Bin Laden eliminiert wurde. Es war völlig klar: Wenn er geschnappt wird, muss er umkommen. Churchill hat am Ende des Zweiten Weltkrieges gesagt: Bringen wir doch alle um! Nicht die Partisanen haben Mussolini getötet; Churchill hat ihn ermorden lassen. Wer sich so weit nach vorn gewagt, wer dieses Leben geführt hat, wie es Bin Laden getan hat, der weiß, dass sein Weg mit dem Tod endet.

Standard: Eine ungewöhnliche Position für einen Aktivisten der 1968er-Studentenbewegung, der wegen Landfriedensbruchs zu neun Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt wurde.

Salvatore: Ich habe meine Art zu denken, nicht geändert. Ich bin kein Pazifist. Ich glaube nicht an Pazifismus - nicht einmal an jenen Mahatma Gandhis. Nehmen Sie Ameisen, die durchs Feuer gehen wollen. Sie marschieren voran, ohne Waffen gegen das Feuer. Und sie sterben und sterben. Und erst über Berge von Leichen können sie das Feuer überwinden. Der Pazifismus ist nicht gewaltlos. Er ist eine gewaltlose Gewalt. Unser Rechtsstaat ist nichts anderes als ein Kompromiss, ein sozialer Vertrag, in dem wir uns überlegen, was für ein Ausmaß an Gewalt ein Volk, eine Gesellschaft hinzunehmen bereit ist. Wir haben die Todesstrafe abgeschafft, denn sie funktioniert bewiesenermaßen nicht als Abschreckung. Als Demokrat darf ich nicht nach dem Prinzip Auge um Auge handeln - wobei das an sich schon ein Fortschritt war: Es wurde nicht mehr der ganze Stamm umgebracht, sondern angemessen - eben Auge um Auge - reagiert.

Standard: Und bei Bin Laden? Den hat man zum Tod verurteilt, aber ohne Prozess.

Salvatore: In diesem Fall ist es Politik und nicht Recht. Und das ist sowieso auf Wahnsinn gebaut. Nietzsche hat gesagt, wenn wir unser Rechtssystem bis auf das ganz Äußerste analysieren, landen wir im Wahn. Es gibt das Prinzip des kleineren Übels. Wir müssen wählen. Wir selektieren. In Auschwitz gab es die Selektion, wir tun nichts anderes. Wir selektieren: schön gegen hässlich. Jung gegen alt. Bequem gegen unbequem. Gewaschen gegen ungewaschen. Reich gegen arm.

Standard: Können Sie verstehen, dass sich viele Ihrer ehemaligen Mitstreiter schwertun mit Bin Ladens Ermordung?

Salvatore: Die sind von einem plötzlichen Moralismus befallen - merkwürdig, nachdem sie für ein annehmliches Leben mit den Schlimmsten paktiert haben. Wir alle hatten doch vor Augen, was in Darfur passiert; wir kennen die Statistiken, wonach fast neun Millionen Kinder unter fünf Jahren pro Jahr sterben. Wir sind also vielleicht nicht moralisch schuldig, weil wir ohnmächtig sind. Aber wir sind Komplizen - und somit auch mit schuld an Bin Laden.

Standard: Worin begründet sich der Unterschied zwischen Che Guevara und Bin Laden?

Salvatore: Man fragte einmal Fidel Castro, was der Unterschied zwischen Terroristen und Revolutionären sei. Seine Antwort war: Revolutionäre siegen! Bei Che bestand die Utopie in der Befreiung aller Völker in einer sozialistischen Gesellschaft. Bin Laden aber hatte keine Utopie. Das ist ein großer Unterschied. Er wollte nicht alle einschließen, sondern uns vernichten. Er wollte ein Kalifat gründen. Es ist ein Krieg - nicht der Befreiung, sondern der Unterjochung des anderen. Wir glaubten an eine Weltrevolution. Und auch wenn die kommunistischen Diktaturen unsere Utopien in eine Katastrophe verwandelten, so sehen wir deutlich, dass der Kapitalismus versagt. Das wird zu einem neuen Sozialismus führen.

Standard: Wie sehen Sie den Befreiungskampf im arabischen Raum?

Salvatore: Wunderbar! Natürlich entstehen innerhalb einer Befreiungsbewegung auch Sekten. Der Mensch ist ein Gattungswesen, das zum Sektierertum neigt. Aber es ist nicht Al Kaida, nicht die Idee des Kalifats und der Vernichtung unserer Kultur, sondern sie wollen teilhaben am Ganzen, also auch an den Regeln, die für uns gelten. Das finde ich positiv. Ich will eine Gesellschaft von Mündigen!

Standard: Worum geht es in Ihrem neuen Stück "Die moralische Nacht"?

Salvatore: Ich suche die Basis für eine ökonomische Ethik; das ist verdammt schwer. Man kann sie nur bei den Sterbenden finden: Die Sterbenden sind gleich. Erst daraus kann man anfangen, eine Ethik zu gründen - eine Ethik der Sterbenden. Es ist ein schwieriges Thema, es beschäftigt sich auch mit dem Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche. Zweimal ist mir das Stück zusammengebrochen. Aber ich bin zäh, ich gebe nicht auf. Ich muss diese Dinge, die ich mir vornehme, zu Ende denken. Ich weiß gar nicht, wie das Resultat sein wird - aber ich weiß, dass es sein wird. (Andrea Schurian, DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.5.2011)