"Nach 1945 ist die Zentralisierung munter weitergegangen, nur war das wenig auffällig", sagt Ewald Wiederin. Reinhard Heinisch findet: "Es ist demokratiepolitisch bedenklich, wenn der Wähler Zuständigkeit nicht zuordnen kann."

Cartoon: Oliver Schopf

Am Anfang waren die Länder. Ein Blick auf eine Europakarte des Hochmittelalters zeigt, dass vieles von den Strukturen, die wir heute in Österreich kennen, schon damals vorhanden gewesen ist. Manche Landesgrenze hat sich verschoben, mancher Landesteil ist verloren gegangen - aber anders als in Deutschland, das bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Klein- und Kleinststaaten zersplittert war, haben die Länder unter Habsburgs Krone über viele Jahrhunderte ihre Gestalt behalten.

Und ein entsprechendes Selbstbewusstsein entwickelt. Zwar verweisen Rechtshistoriker die immer wieder von Ländervertretern aufgestellte Behauptung, die Republik Österreich sei zweimal von den Bundesländern gegründet worden, in den Bereich der Legende - aber rütteln lassen die Länder und ihre Hauptleute nicht an den etablierten Strukturen.

Das musste vor zehn Jahren auch Wolfgang Schüssel erfahren, der im Reformeifer seiner schwarz-blauen Koalition (Motto: "speed kills" ) zunächst mit Wohlwollen betrachtet hatte, dass eine Diskussion über die Existenzberechtigung der Länder und die Möglichkeit, wenigstens einige Länder zusammenzulegen, aufgekommen war.

Einige dem Vernehmen nach wenig freundliche Telefonanrufe später gab sich Schüssel viel vorsichtiger: Er wisse sehr wohl, dass einige Bundesländer älter als der Begriff Österreich seien, gab Schüssel zu Protokoll, er denke nicht daran, solche historischen Strukturen zu zerschlagen.

Wieder war einReformanlauf gescheitert.

Es war nicht der Erste. Es war nicht der Letzte. "Seit 1920 ist kaum ein Jahr vergangen ohne Umbau im föderalen Gefüge", sagt Erich Wiederin, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien. Als Wissenschaftler versucht er, genau auseinanderzuhalten, was den Bundesstaat betrifft und was denFöderalismus. Ersterer ist relativ neu - 1918/19 ist die Republik aus den Resten der Monarchie zusammengezimmert worden - das ist keine 100 Jahre her, geschweige denn jene 200 Jahre, die es in historischer Perspektive braucht, um ein staatliches Gebilde so zu verfestigen, dass es allseits als quasi natürliche Gegebenheit angesehen wird. Der Föderalismus aber ist - mit Blick auf die alten Landkarten - nachweislich uralt.

Deshalb gibt es auch in Österreich - anders als in Deutschland - kaum Umgliederungsdebatten (und wenn, dann scheitern sie wie die erwähnte in der Ära Schüssel). Im Gegenteil: Wenn in der Vergangenheit Landesteile abgetrennt oder auch nur umbenannt wurden, so ist das rasch wieder rückgängig gemacht worden. Man kann Oberösterreich historisch korrekt "Land ob der Enns" nennen. Aber als "Oberdonau", wie es von den Nazis genannt wurde, hat es keine emotionale Bindungskraft gehabt.

Und schon gar keine politische Legitimation. Die Legitimation hat auch in der Zeit des Austrofaschismus gefehlt - unter Dollfuß und Schuschnigg wurde ja versucht, das Republikanische aus Verfassung und Bewusstsein zu streichen. Dies passierte mit dem seltsamen Ergebnis, dass der austrofaschistische "Bundesstaat Österreich" weniger bundesstaatliche Merkmale hatte als die Republik und sogar die Monarchie davor.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde daher an die Verfassung von 1920 in der (zentralistischeren) Version von 1929 angeknüpft - "und nach 1945 ist die Zentralisierung munter weitergegangen, nur war das wenig auffällig, weil es überwiegend außerhalb des Bundesverfassungsgesetzes passiert ist", referierte Wiederin in der Vorwoche bei einer Tagung der österreichischen Forschungsgemeinschaft.

Dabei wurde ein Paradoxon des Föderalismus offensichtlich: Die Österreicher haben eine starke Bindung an ihre Heimatgemeinden, an ihre Bundesländer und (regional unterschiedlich, aber dennoch mehrheitlich) an die Republik Österreich.

Fragt man in einzelnen Bundesländern, wer auf die Politik im persönlichen Lebensbereich Einfluss haben soll, so wird an erster Stelle die Landesregierung, mit weitem Abstand dahinter die Bundesregierung und gerade einmal von jedem hundertsten Befragten die EU genannt. Wird es aber konkret, so sieht die Sache anders aus.

Eine lokale Umfrage in Salzburg hat ergeben, dass die Bevölkerung Umweltschutz mehrheitlich europaweit geregelt haben will, Gesundheitsversorgung, Bildung, Sicherheit und Arbeitsmarktfragen werden dagegen als Zuständigkeit der Bundesebene gesehen.

Für die Landespolitik bleibt da nicht viel. Und das ist letztlich auch die Verfassungsrealität.

Aus dem Widerspruch zwischen den Wünschen nach politischer Regulierung und der Sehnsucht nach angreifbarer, unmittelbar erlebbarer Politik ergibt sich allerdings eine gewaltige Spannung.

Diese erläutert Reinhard Heinisch, Politikwissenschaftler in Salzburg, so: "Es ist demokratiepolitisch bedenklich, wenn der Wähler die politische Zuständigkeit nicht zuordnen kann." Die Wähler wüssten dann nämlich nicht mehr, wen sie warum wählen und vor allem auch nicht, wen sie für Politikversagen eigentlich abwählen könnten.

Dabei ist selbst bei politischen Eliten die Ansicht fest verankert, dass sich in der politischen Willensbildung die Gewichte massiv verschoben haben, seit Österreich in die EU gekommen ist und die europäische Rechtssetzung immer mehr harmonisiert worden ist. Das hatte der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors 1988 vorhergesagt: "In zehn Jahren werden 80 Prozent der wirtschaftsrelevanten Gesetzgebung ihren Ursprung in Brüssel haben."

Die Mär wurde zum Selbstläufer: In der heimischen Diskussion gilt als ausgemacht, dass die Bundespolitik im Wesentlichen Brüsseler Regelungen durchwinke und die Landesgesetzgebung kaum etwas zu sagen habe.

Zumindest für die Rechtssetzung auf Bundesebene ist das aber widerlegt: Einer Untersuchung der Uni Salzburg zufolge sind nur 25,8 Prozent der zwischen 1992 und 2003 beschlossenen Bundesgesetze "europäisiert", für die Verordnungen gilt das in 11,7 Prozent der Fälle.

Es bleibt also viel Spielraum. Viel Spielraum auch, um die Doppelgleisigkeiten innerhalb Österreichs zu beseitigen. Aber das ist 1992-94 mit dem Perchtoldsdorfer Paktum (das eine Kompetenzbereinigung bringen sollte) ebenso gescheitert wie 2007-08 die Expertengruppe zur Staats- und Verwaltungsreform. Der Bundesstaat ist praktisch nicht abzuschaffen. Reformierbar wäre er. (Conrad Seidl, STANDARD-Printausgabe, 10.5.2011)