Das Ufer mit der Aussicht auf die Fatih Sultan Mehmet Brücke (die zweite Bosporus Brücke) bietet Platz zum Sitzen, Nachdenken und Reden.

Foto: Yilmaz Gülüm

Das Leben hält schon so manche Überraschung für einen bereit. Wenn ich an die Größe und Vielfalt, die Istanbul zu bieten hat denk, muss ich mich über die Zufälle, die ich erlebt habe, wundern.

Ich wohne zufällig in derselben Nachbarschaft, in der meine Mutter ihre Kindheit verbracht hat. Eine Zeit lang hat sie sogar in derselben Straße gewohnt wie ich jetzt. Bei einem Kurzbesuch meines Vaters habe ich ihn gebeten, mir doch sein altes Institut an der Uni zu zeigen. Die Verwunderung war dann schon groß, als wir vor meiner Fakultät standen. Denn eigentlich hat er etwas völlig anderes studiert als ich. Vor etwas mehr als 20 Jahren, wurde das Gebäude allerdings umfunktioniert. Ich habe also Vorlesungen in denselben Räumen, wie mein Vater damals auch.

Die Eltern meiner türkischen Mitbewohner waren in ähnlichen, gleichgesinnten, Studierendenorganisationen, wie meine auch. Sie beteiligten sich an denselben Demonstrationen, setzten sich für dieselben Dinge ein und erzählten ihren Kindern, meinen Mitbewohnern, dieselben Geschichten, wie meine Eltern mir auch.

Nichts davon war geplant. Ich hätte in irgendeiner Gegend eine Wohnung finden können, bei den schrägsten Vögeln. Ich hätte ebenso an irgendeiner der insgesamt 44 Universitäten in Istanbul, in irgendeinem Gebäude, landen können. Bin ich aber nicht.

Wieso ist das wichtig?

Ich komme hier nicht drum herum darüber nachzudenken, wer ich bin, was "mich" ausmacht. Nicht zuletzt auch über diese eine Frage, die wie eine Wolke über uns Migrantenkindern zu schweben scheint: Bin ich nun Türke oder Österreicher? Und tatsächlich konnte ich diese Frage für mich abschließen.

Eines vorweg: Diese Frage ist mit einem "und wie siehst du dich selbst?" nicht zu beantworten. Auch wenn es für manche schwer vorstellbar ist, aber wie man von anderen gesehen wird, gibt hier den Ausschlag. Man fühlt sich einfach nicht als Österreicher, nur weil man sagt man sei Österreicher, wenn man gleichzeitig von allen Türke genannt wird. Ich bin für mich zum Schluss gekommen, dass die Frage eigentlich unwichtig ist. Wozu sollte man sich selbst in eine Nationen-Schublade stecken, wo das offensichtlich nicht so eindeutig ist? Wozu sollte das gut sein? Ein Bekannter, sagte einmal, wir seien Brücken zwischen zwei Welten. Vermittler. Ein Fuß an einem Ufer, der andere am anderen Ufer. Und meistens hängen wir dazwischen, im Nirgendwo.

Was mich ausmacht

Viel wichtiger als diese Frage ist es zu wissen, wo man herkommt und was einen geprägt hat. Wie wichtig, das habe ich erst hier gelernt. Geprägt haben mich zum einen meine Eltern, und zum anderen Wien. Wer meint, meine Eltern machen mich zum Türken, gut. Wer meint, die Sozialisation in Wien macht mich zum Österreicher, auch gut. Die ganzen Wortschöpfungen dazwischen - von Austro-Türke bis türkischstämmiger Migrant- kann ich mittlerweile gar nicht mehr zählen.

Als Sohn meiner Eltern ist es wichtig zu wissen, was sie durchlebt haben. Wodurch sie geworden sind, was sie sind. Denn schließlich bin ich auch durch sie der geworden, der ich bin. Meine Muttersprache zu beherrschen und hier weiter zu verbessern ist da nur die Spitze des Eisbergs.

Wenn ich ziellos durch die Straßen laufe, in denen meine Mutter aufgewachsen ist, wenn ich auf den Plätzen bin, wo ihre Generation demonstriert hat und über all das nachdenke, was sie durchleben mussten, dann macht mich das vor allem eins: stolz. Ich bin froh der Sohn meiner Eltern zu sein, ob mich das jetzt zum Türken macht oder nicht. Ich möchte jedenfalls kein anderer sein. Schade eigentlich, dass es Istanbul gebraucht hat, bis mir das auf diese Weise klar wurde. (Yilmaz Gülüm, 9. Mai 2011, daStandard.at)