Ein Streitgespräch über rechtliche Grundlagen, christliche Werte und die Folgen der US-Operation in der arabischen Welt: Hans Winkler (li.) und Ingeborg Gabriel.

Foto: Standard/Hendrich

Von Julia Raabe.

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STANDARD: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel steht in der Kritik, weil sie ihre Freude über den Tod von Osama Bin Laden geäußert hat. Darf man sich über seinen Tod freuen?

Gabriel: Ich würde die Frage anders formulieren: Freut man sich über den Tod Osama Bin Ladens? Wenn ich eine spontane Emotion der Freude habe, kann ich sie wahrscheinlich nicht unterdrücken. Bei mir ist keine Freude aufgekommen. Weil die Tötung eines Menschen keine Freude auslöst. Das Wort ist in diesem Zusammenhang verfehlt.

Winkler: Ich kann mich über den Tod eines Menschen grundsätzlich nicht freuen. Dagegen gefällt mir die Formulierung, die der Sicherheitsrat gefunden hat (liest auf Englisch vor): "Der Sicherheitsrat begrüßt die Nachricht, dass Osama Bin Laden nie wieder in der Lage sein wird, solche Akte des Terrorismus auszuüben." - Darüber kann ich mich freuen.

Gabriel: Mich haben die Beglückwünschungen durch verschiedenste Politiker doch einigermaßen schockiert. Die Rechtsfrage ist in den Reaktionen überhaupt nicht aufgetaucht, man hat einfach gesagt: Großartig, dass Ihr das gemacht habt. Es gibt keine Legitimierung durch die internationale Gemeinschaft, die Amerikaner haben das alleine in die Hand genommen. Mit den Souveränitätsvorbehalten wird sehr locker umgegangen.Der pakistanische Präsident hat erst im Nachhinein die Aktion gutgeheißen.

STANDARD: Die Frage an den Völkerrechtler: kein Urteil, kein Prozess. Wie schätzen Sie den Einsatz rechtlich ein?

Winkler: Es gibt derzeit kaum ein Thema, das so viele Unsicherheiten enthält. Ich bewundere jeden, der offenbar ganz genau weiß, was da abgelaufen ist und welche Befehle gegeben wurden. Das wissen wir nicht.

STANDARD: Pakistan wusste nichts vom Einsatz, eine Souveränitätsverletzung?

Winkler: Das ist für mich der geringste Ansatzpunkt. Es war zwar keine gemeinsame Aktion, aber das Ergebnis einer jahrelangen Zusammenarbeit mit Pakistan zur Lösung des Terrorproblems. Das zweite Thema ist das Recht auf Selbstverteidigung. Aber es bezieht sich auf das Recht zwischen Staaten - Al-Kaida ist kein Staat. Artikel 51 (der UN-Charta, Anm.) ist also nicht wirklich anwendbar. Auf der anderen Seite zu sagen, nur deshalb, weil es nicht genau hineinpasst, müssen die Vereinigten Staaten tatenlos zuschauen, wie Terrorakte gegen sie und andere verübt werden, ist auch nicht das Gelbe vom Ei.

STANDARD: Es gibt Experten, die bezweifeln, dass Bin Laden noch die große Rolle gespielt hat wie vor Jahren. Kann das Selbstverteidigungsargument überhaupt noch greifen?

Winkler: Ob Bin Laden noch eine Gefahr darstellte oder nicht, kann ich nicht beurteilen.

Gabriel: Für mich stellt sich die Frage nach den Grenzen für die Entscheidung, welcher Mensch generell als Gefahr eingestuft wird. Dafür gibt es gar keine Kriterien.

Winkler: Da sind wir uns ja einig. Wenn es eine befohlene Tötung war, dann ist das nicht im Einklang mit dem Völkerrecht. Eine andere Frage ist, ob sein Tod unausweichlich war im Zuge einer Aktion, die darauf abzielte, ihn zur Verantwortung zu ziehen.

Gabriel: Es war nicht der einzige Fall, wenn auch ein spektakulärer. Es gibt immer wieder von amerikanischer als auch von israelischer Seite gezielte Tötungen von Menschen, die als terroristisch eingestuft werden. Das ist eindeutig gegen das Völkerrecht.

Winkler: Europa war klar dagegen, wir haben die extralegalen Tötungen immer abgelehnt. Aber man tut sich auch sehr leicht zu sagen: Hätte man ihm halt einfach gesagt: Komm, streck die Hände aus, lass dir die Handschellen anlegen. Das erscheint mir etwas naiv. Es ist auch nicht das Thema, ob er unbewaffnet war, sondern: Ist er umgeben gewesen von einer Leibgarde, die bereit war zu schießen?

Gabriel: Die USA haben sich zum einen nicht bemüht, hier einen völkerrechtlichen Konsens zustande zu bringen. Das schafft längerfristig wahrscheinlich auch politische Probleme.Was passiert ist, wird in der arabischen Welt auch von jenen negativ gesehen werden, die für nihilistischen Terror nichts übrighaben. Man kann sich das analog vorstellen: In Wien wird ein österreichischer Terrorist erschossen durch arabische Spezialeinheiten. Wo liegt die Solidarität der Österreicher? Ich frage mich auch, was das für die neuen Demokratiebewegungen in der arabischen Welt bedeutet, wenn der Westen derartig locker mit menschenrechtlichen Prinzipien umgeht.

STANDARD: Muss das Völkerrecht reformiert werden?

Winkler: Wir brauchen eine offene Diskussion über alle Themen, die in einer gewissen Grauzone sind. Wir sind in den letzten 15 Jahren mit den klassischen Begriffen des Völkerrechts schlicht nicht zurande gekommen, angesichts von Phänomenen wie der Al-Kaida. George W. Bush hat immer vom Krieg gegen den Terror gesprochen. Für uns Europäer war das kein Krieg im Sinne des Völkerrechts, der auch die Tötung von Kombattanten legitimiert hätte. Eine gezielte Tötung von Bin Laden wäre daher völkerrechtlich nicht zulässig gewesen. Der Kampf gegen den Terrorismus muss unter Beachtung der Rechtsstaatlichkeit geführt werden. Sonst stellen wir uns auf dieselbe Stufe wie die Terroristen.

Gabriel: Terror hat einen gefährlichen Effekt: die Vernebelung des rationalen Bewusstseins. Der chinesische Kriegstheoretiker Sun-Tzu hat gesagt: Töte einen, schüchtere tausend ein. Diese Einschüchterung kann zu einem Verlust der eigenen Standards führen. Wir hebeln das internationale Rechtssystem, das wir über Jahrhunderte aufgebaut haben und versuchen, der ganzen Welt als überlegen anzupreisen, aus.

STANDARD: US-Präsident Obama sagte: "Der Gerechtigkeit wurde Genüge getan." Von welchem Gerechtigkeitsbegriff sprechen wir da - Auge um Auge, Zahn um Zahn?

Gabriel: Ich glaube, das war eine populistische Äußerung. Für mich ist erschreckend, dass ein Gut-Böse-Dualismus offenbar tief in unser Bewusstsein eingedrungen ist. Das sind die Bösen, die werden jetzt niedergeknallt - ein bisschen Wildwestfilm-Manier.

Winkler: Ich billige den USA zu, sich hier gegen eine akute Gefahr für eine große Anzahl von Menschen gewehrt zu haben. Aber es war sicher nicht die Vollziehung der Gerechtigkeit. Mir gefällt nicht, dass hier solche Ausdrücke verwendet werden. Oder auch: Er hatte die Todesstrafe verdient. Es sollte hier auch kein Aspekt der Rache eine Rolle spielen.

STANDARD: Wird sich das, wie schon angesprochen, in den arabischen Ländern negativ auswirken?

Winkler: Es kann womöglich negative Folgen haben. Andere wiederum sagen, es gebe Anzeichen, dass Al-Kaida nun so weit geschwächt ist, dass sich die Lage, auch wenn man die Demokratiebewegungen berücksichtigt, verbessern wird.

Gabriel: Aus meiner Erfahrung haben sich neben kleinen extremistischen Flügeln in der breiten Bevölkerung schon leicht antiwestliche Gefühle aufgebaut, die abrufbar sind. Die sind zuerst gar nicht religiös begründet, sondern haben mehr mit der Geschichte zu tun. Ich denke, die zukünftige Linie muss sein, die Herzen und Hirne dieser großen, im Prinzip moderaten Gruppen zu gewinnen. Die Politik der letzten zehn Jahre, vor allem seit Beginn des Irak-Kriegs, schien mir eher das Gegenteil zu bewirken. (DER STANDARD, Printausgabe, 7.5.2011)