Freud werde zur Zeit neu gelesen. Es gebe eine Renaissance vor allem des frühen Freud, gerade unter den Neurowissenschaftern: Siri Hustvedt in Wien.

 

Hustvedt, 56, geboren und aufgewachsen in Minnesota, ist Schriftstellerin, Essayistin und Übersetzerin. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Paul Auster, in Brooklyn.

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Michael Freund sprach mit der amerikanischen Schriftstellerin.

STANDARD: Ms. Hustvedt, Ihr Buch "Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven" geht von der persönlichen Erfahrung eines Zitteranfalls aus und wird zu einem breit angelegten Essay über die verschiedensten Erklärungen, worum es sich dabei handeln könnte.

Hustvedt: Das Buch handelt von verschiedenen Formen, wie man etwas betrachtet. In einem psychiatrischen Rahmen sehen Anfälle anders aus von einer neurologischen Warte oder aus der Sicht eines Traumdeuters.

STANDARD: An einer Stelle schreiben Sie von dem weiten Meer an Unbewussten, "wovon wir nichts wissen, nie etwas wissen werden oder das wir vergessen haben".

Hustvedt: Das glaube ich wirklich. In gewissen Wissenschaftstraditionen gab es einen immensen Widerstand gegen diese Ansicht. Im Behaviorismus konnte man über das Unbewusste nicht sprechen. Das hat die "echte" Wissenschaft lange Zeit beherrscht.

STANDARD: Neben dem Behaviorismus hat aber doch die Psychoanalyse in den USA lange Zeit vorgeherrscht, zumindest in der Psychiatrie.

Hustvedt: Schon. In der amerikanischen Psychiatrie hat die Verschiebung (in Richtung pharmakologische Orientierung) in den Siebzigerjahren begonnen.

STANDARD: Sehen Sie das Buch also auch als eine Verteidigung der Psychoanalyse aufgrund neuer Einsichten?

Hustvedt: Nein, und es ist auch keine Selbstanalyse. Aber Freud wird zur Zeit neu gelesen - ich glaube, Intellektuelle werde ihn in alle Ewigkeit neu lesen -, und es gibt eine Renaissance vor allem des frühen Freud, gerade unter den Neurowissenschaftern. Vor 40 Jahren hätte ich das Buch nicht schreiben können, weil da dieses Verständnis gefehlt hat, diese Suche nach den Korrelaten zwischen Unbewusstem und Verhalten.

STANDARD: Sie erwähnen immer wieder die Doppeldeutigkeit, den Doppelsinn (ambiguity) von Phänomenen und schreiben, dass Sie sie "mit Worten jagen" - wäre das eine mögliche Beschreibung der psychoanalytischen Praxis?

Hustvedt: Ich denke, dass das eine schöne Art ist, es auszudrücken. Ich habe vor kurzem über den Übergang von Gefühl zu Darstellung vorgetragen. Die "Zitternde Frau" endet nicht mit einer Diagnose oder einer Heilung. Vielmehr geht es von Gefühlen aus, die sozusagen niemandem gehören, von einer nervösen Krankheit bis zum Besitz einer eigenen Geschichte.

STANDARD: Am Ende des Buches kommen Sie auf den Anfang zurück, wiederholen die ersten Worte - wie Sie bei einer Rede über Ihren verstorbenen Vater unkontrollierbar zu zittern begonnen haben: Als ob Sie etwas wieder auf den Begriff bringen wollten.

Hustvedt: Das Buch ist eine Reise zu dem Augenblick hin, an dem ich sagen kann: Ich bin die zitternde Frau. Ich wusste nicht, wohin meine Reise gehen würde. Das Buch war eine Suche.

STANDARD: Wie viel diskutieren Sie während des Schreibens mit ihrem Mann Paul Auster?

Hustvedt: Wir lesen uns gegenseitig unsere Erstfassungen vor. Er ist mein erster Leser und ich der seine. Wenn etwas sehr daneben klingt, dann sagen wir: Lieber nicht so, lieber zurück an den Schreibtisch für eine Neufassung. Aber der kreative Teil bleibt privat. Was mich immer interessiert: Wie sehr Emotionen mit Kreativität zusammenhängen. Ein Beitrag von mir darüber soll in Neuropsychoanalysis veröffentlicht werden. Bin gespannt, was die dazu sagen.

STANDARD: Man kann mitverfolgen - auch an den vielen Zitaten -, dass Sie sich sehr intensiv mit den Grenzgebieten zwischen Psychiatrie, Neurowissenschaften und Psychoanalyse beschäftigt haben; wie man von Ihren anderen Büchern weiß, nicht erst seit dem Zitteranfall.

Hustvedt: Allerdings. Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits länger an einer entsprechenden Diskussionsgruppe an der Rockefeller Uni teilgenommen. Ich lese wöchentlich Artikel von Neurowissenschaftern. Ich habe als 15-jährige Freud zu lesen begonnen, da hab ich zwar nicht viel verstanden, aber es immerhin versucht; auch neurologische Fallstudien usw. Zu Freud bin ich immer wieder zurückgekommen, auch in meiner Dissertation, die von "Sprache und Identität bei Charles Dickens" handelt. Also zum Zeitpunkt des Zitteranfalls war ich schon in einer guten Ausgangsposition. (lacht)

STANDARD: In Wien sprechen Sie anlässliche der diesjährigen Freud-Vorlesung zu dessen Geburtstag über sein Bild von der Übertragungssituation zwischen Patient und Analytiker als "Tummelplatz" und darüber, dass für den englischen Psychoanalytiker Donald Winnicott die Idee des spielerischen Ausprobierens überhaupt die Wurzel von Kultur darstellt.

Hustvedt: Ja. Ich denke, es hat in einem grundlegenden Sinn mit Kunst zu tun.

STANDARD: Eine Art stellvertretendes Handeln?

Hustvedt: Es gibt wohl verschiedene Niveaus des Spielens. Natürlich auch die Übertragung, da stellt sich die Frage: In welchem Rahmen „spielen" wir unsere Rollen in der analytischen Beziehung?

STANDARD: In der "Zitternden Frau" kommen eine Analytikerin und ein Neurologe vor. Gibt es die beiden nach wie vor in Ihrem Leben?

Hustvedt: Ja. (lacht) Nicht so sehr der Neurologe. Aber zu ihr gehe ich jede Woche. Und was mich glücklich gemacht hat: Sie hat "Der Sommer ohne Männer" gelesen und es sehr gemocht. Das Buch ist auch ihr gewidmet.

STANDARD: In dem Buch geht es immer wieder um Verdoppelungen, eingebildete Begleiter, um Parallelwelten, die man sich baut, und dass man selber eigentlich ein Anderer, eine Andere ist. Die Doppeldeutigkeit der eigenen Existenz also.

Hustvedt: Es geht hier um Repräsentation - also eben sich vorzustellen, als sich selbst oder als jemand anderer. Im Roman werden etwa die Teilnehmerinnen an einem Kurs über Poesie dazu aufgefordert, sich in jemanden anderen hineinzuversetzen. Viele Studien ergeben ganz klar, dass die Art, wie wir zu uns selbst finden, über Andere läuft. Das kommt ja nicht von mir, das wird schon lange und unter anderem in den Neurowissenschaften erforscht. Dieses Thema fließt von daher auch in meine Arbeit ein. Wir entdecken uns selbst durch die Augen anderer. Das bedeutet nicht unbedingt Verwirrung. Das Buch ist meiner Ansicht nach eine Abhandlung über die Idee des Andersseins in allen Spielarten.

STANDARD: Die Namen in dem autobiografisch gefärbten Buch sind interessant: Die Protagonistin hat einen skandinavischen Familiennamen wie Sie, ihr Vorname lautet Mia, "Meine" auf italienisch ...

Hustvedt: Damit spiele ich auch. "Mia" kann zu "I am" werden. Oder die Erzählerin. In meinem ersten Buch hieß sie Iris, das ist Siri verkehrt herum und auch die Iris des Auges, und "I" ist natürlich auch wieder die erste Person Einzahl. Ich baue viele Anspielungen in meine Namen ein. Nehmen Sie auch den Ort in Minnesota: Bunden. Das heißt auf Norwegisch Bauer. Es steckt auch "Bonds" drinnen, Verbindungen, soziale Kohäsion, aber auch Fesseln ...

STANDARD: Oder Anleihepapiere.

Hustvedt: Oder Anleihepapiere und die damit verbundenen Verpflichtungen, obligations. Alles das sollte in dem Namen stecken. Und es ist auch eine Version meines wirklichen Heimatortes in Minnesota.

STANDARD: Um noch einmal auf die Bezüge und Quellen in der "Zitternden Frau" zurückzukommen: Sie gehen weit über die übliche Bandbreite hinaus. An einer Stelle nennen Sie hintereinander Martin Buber, Lev Vygotsky und Maurice Merleau-Ponty.

Hustvedt: Die sind neben Sigmund Freud meine Helden!

STANDARD: Also ein Mystiker, ein sowjetischer Psychologe und ein französischer Phänomenologe: ziemlich wildes Denken.

Hustvedt: Es stimmt. Aber so funktioniert halt mein Gehirn. Im Ernst: Es zählt zum Luxus einer schriftstellerischen Existenz, dass man nicht in einer ganz bestimmten Richtung oder Forschungsdisziplin feststeckt. Ich habe die Freiheit, in verschiedene Richtungen zu gehen. Das gibt mir Freiheiten. Ich wurde zum Beispiel eingeladen, auf einer Neuroscience-Konferenz in Florenz vorzutragen - nicht weil ich darüber forsche, sondern weil ich eine theoretische Perspektive einbringen kann.

STANDARD: Übrigens zitieren Sie unter anderem auch Georg Trakl ...

Hustvedt: Ich liebe Trakl.

STANDARD: ... und Thomas Bernhard.

Hustvedt: Den mag ich auch, aus anderen Gründen. (lacht) Er ist immer so zornig, aber der Zorn kommt mir belebend vor, nicht deprimierend. Er ärgert sich halt wirklich die ganze Zeit, und das mag ich an ihm. Vielleicht auch, weil ich keine Österreicherin bin. (DER STANDARD, Printausgabe, 7./8.5.2011)