Bild nicht mehr verfügbar.

Am 11. September 2008 besuchte US-Präsident Barack Obama Ground Zero in Manhattan. Nun, nach dem Tod von Osama Bin Laden, gedachte er am Donnerstag dort wieder der Toten. Zuvor besuchte er die Feuerwehrstation am Times Square.

Foto: Reuters/Lamarque

Bei vielen überwiegt wieder die Trauer um die Opfer des Terrors von 9/11.

*****

Pferdehufe klappern auf dem Pflaster, berittene Polizisten drehen routiniert ihre Runden. Eine Touristengruppe fährt auf Segway-Rollern vor. Und der Mann mit dem tätowierten Gesicht, der sich Start Loving nennt, hockt wie immer vor seinem Zelt, um gegen Atomwaffen und gegen Kriege in Nahost zu demonstrieren. Die üblichen Bilder beim Weißen Haus - nicht unbedingt das, was man erwartet, wenn man in der Zeitung über Terrorhysterie liest. Nur stehen jetzt mehr Menschen als vorher vor dem schwarzen Gitterzaun. Der Tod Osama Bin Ladens lässt viele zum Präsidentensitz pilgern, jetzt aber ohne Fähnchen, wie in der Nacht nach der Kommandoaktion.

Joe und Becky Eaton sind aus Indianapolis, ein Ärzte-Ehepaar auf Dienstreise. "Der Mittlere Westen, bodenständig und praktisch" , stellt sich Joe mit leiser Ironie vor. Und er erzählt ungefragt, wie ihn die jubelnden Studenten mit ihren Sprechchören "USA! USA!" nervten, als sie durch die Pennsylvania Avenue zogen. "In den Straßen zu tanzen, das ist nicht Amerika" , sagt er tadelnd, aber Becky erzählt, dass sie schon so etwas wie stille Genugtuung empfindet.

Als am 11. September 2001 die Flugzeuge in die Zwillingstürme krachten, hatte sie gerade zu studieren begonnen. "Mit einem Schlag war ich erwachsen. Das Gefühl, dass man in Sicherheit lebt, es war plötzlich weg." Es komme so schnell wohl auch nicht wieder, unterbricht Joe. "Irgendwann kommt der nächste Anschlag."

Start Loving war Lehrer in Philadelphia, als 9/11 die Welt veränderte. In seiner Schule lief ein Fernseher, schockiert sah er zu, wie die Türme einstürzten. Dass die Supermacht gedemütigt wurde, wie es manche Politiker heute noch einmal in Erinnerung rufen, empfand er nicht so. "Ich denke nicht in Machtkategorien. Ich denke an die verzweifelten Menschen, die aus ihren Bürofenstern sprangen. Ich spüre nichts als Trauer." Dass das Weiße Haus kein Foto des toten Bin Laden veröffentlicht, kann der Zeltbewohner verstehen. "Barack Obama hat meinen Respekt, ich vertraue ihm." Bei George W. Bush und Dick Cheney, fügt Start Loving hinzu, sei das anders gewesen.

Szenenwechsel. In der St. Columba's Episcopal Church lässt die Pastorin Janet Vincent Kerzen anzünden. Für den Abend hat sie zur Meditation in ihre Kirche geladen. Eine Zäsur wie der Tod des Al-Kaida-Chefs könne verwirrende Gefühle auslösen, sagt die Geistliche - von Zufriedenheit bis hin zu Schmerz, wenn kaum vernarbte Wunden wieder aufreißen. Mit 9/11 verbindet sie die Erinnerung an endlose Stunden in der Trümmergrube Manhattans, an giftigen Qualm und die verdreckten Gesichter der Feuerwehrleute, die am Ground Zero nach sterblichen Überresten suchen.

Am 12. September läutete bei ihr in White Plains, einem Vorort New Yorks, das Telefon: Die Witwe eines bei dem Anschlag ums Leben Gekommenen fragte, ob sie seelsorgerisch helfen könne. "In den ersten Tagen, hätte ich eine Pistole gehabt und wäre Bin Laden vor mir gestanden:Ich hätte den Abzug gedrückt." Diese rohe Wut höre sie immer noch bei ein, zwei Feuerwehrleuten, mit denen sie in dieser Woche sprach. "Was ich bei den Hinterbliebenen aber nie höre, ist Jubel. Denn ihre Nächsten sind ja immer noch tot."

Im neuen Werk von Pulitzer-preisträger David Shipler, The Rights of the People, geht es darum, wie die Suche nach Sicherheit auf Kosten der Freiheit geht. "Ja, wir haben Bin Laden" , sagt Shipler im Washingtoner Buchladen Politics & Prose. "Aber das Vermächtnis, das er uns hinterließ, wird uns leider noch eine Weile begleiten." Nach 9/11 sei der Staat mit dem Abhören von Telefonaten, dem Mitlesen von E-Mails und mit erweiterten Geheimdienst-Kompetenzen bedenklich von jenen Idealen abwichen, wie sie die Gründerväter der USAin die Verfassung schrieben.

Irritiert verfolgt der frühere New-York-Times-Journalist, wie Parteigänger von George W. Bush die Foltermethoden verteidigen. Demnach habe Waterboarding überhaupt erst auf die Spur Bin Ladens geführt. Shipler weiß aus Erfahrung, dass solche schnell hinausposaunten Geschichten meistens nicht stimmen. Nützliche Erkenntnisse über Terroristen gewinne man am besten durch humane Methoden. Die Jahre nach 9/11, sagt er, seien ein Umweg gewesen. "Bin Laden ist erst dann wirklich tot, wenn wir diesen Weg wieder verlassen." (Frank Herrmann aus Washington/DER STANDARD Printausgabe, 6.5.2011)