Sie springt nicht an. Nur ein lautes Gestottere und Geschnaufe. Martin Wosberg lässt sich keine Nervosität anmerken. Der Chauffeur kennt die Startschwierigkeiten seiner Ente. Noch ein Versuch, und endlich schnattert das motorisierte Federvieh los, macht kleine Freudenhüpfer und fügt sich ein in den Verkehrsschwarm von Paris, aus dessen Straßenbild der "Deux Chevaux", mit bürgerlichem Namen 2CV, so gut wie verschwunden ist.

Martin schleust und kutschiert neben seinem Studium nicht nur nostalgische Touristen im Kult-Auto der 68er durch enge Gassen oder über weite Boulevards und erzählt bei offenem Fetzendach und brütender Sonne Anekdoten und Historisches. Das eigenwillige Fahrverhalten der Pariser nimmt der Deutsche gelassen. Stress ist den Parisern aber so und so ein Fremdwort, niemand fragt nach dem Grund einer fünfzehnminütigen Verspätung.

Im Viertel Saint-Germain-des-Prés verströmt der sich neigende Sonnentag seine abendlichen Küchen- und Parfümgerüche in den kopfsteingepflasterten Gassen. Relativ wenige Touristen, vielmehr Einheimische frönen den Frühlingsgefühlen: L'amour liegt in der Luft. Die Rue de Buci, eine Seitenstraße des zentralen Shopping-Boulevard Saint Germain, ist voll des Lebens und lässt die Hormonhaushalte des durchgestylten Pariser Oberklasse-Jungvolks schwanken, das dicht aneinandergedrängt am Aperitif nippt.

An einer Kreuzung gibt ein kleiner Testosteron-Napoleon, die Zigarre zwischen die Zähne gezwickt, mit Paris-Hilton-Imitation am Beifahrersitz seinem Porsche lautstark die Sporen. Die Zeit der Auto-Enten ist ja vorbei, Ente findet man noch in ihrer ursprünglichen Form auf den Tellern trendiger Brasserien und stilvoller Restaurants wie dem "Kitchen Galerie Bis" oder dem kürzlich eröffneten "Le Germain". Ein Blick auf die Preisgestaltung sei für minder betuchte Paris-Besucher da wie dort anzuraten, leistbar ist das Speisen zu Mittag bei einer "Plat du Jour" (Tagesgericht).

Restaurants, Nobelboutiquen und Galerien prägen das am linken Seineufer gelegene sechste Pariser Arrondissement Saint Germain, das die höchsten Immobilienpreise der Stadt hat. Man bekommt die dekadente Lust, sich einen Café Crème um fünf Euro im "Le Flore" oder bei "Les Deux Magots" zu gönnen, nur des Flairs wegen. Einfach einmal in den Kaffeehaus-Zentren geistesgeschichtlicher Umbrüche zu sitzen, wo Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre diskutierten und über den nach ihnen benannten Platz Paris' älteste Kirche betrachten, die dem vergeistigten Fleck Stadt seinen Namen gab.

Saint-Germain-des-Prés hat sich in seinem Charakter über die Jahrzehnte nicht stark verändert: Es ist ein Treffpunkt vieler Künstler und Intellektueller. Wenn es auch für die Hautevolee chic wurde, sich hier anzusiedeln, hat sich aber im Zuge der Gentrifizierung so etwas wie ein avantgardistisch-dörflicher Charakter mit einer Menge Charme erhalten. Saint Germain ist ein nobles Dorf mit einer reizvollen Mannigfaltigkeit: Pâtisse-rien, Buchhandlungen, Alleen, Obst- und Blumenläden, Jazzlokale, Theater, Vinotheken.

In den Niederungen der Nebenstraßen, wo nicht nur Cafés preiswerter sind, taucht der genussfreudige Flaneur in eine lukullische Welt historischer Bistros und eleganter Spezialitäten-Geschäfte ein. Für die nötige Orientierung im Gourmet-Paradies sorgt Muguet Becharat, die ihre Gäste schwungvoll durch das Feinschmecker-Viertel führt und mit ausladenden Gesten über geschmackliche Experimentierfreudigkeit und Philosophie franzö- sischer Schokolade-Kochmeister parliert.

Diese Kunsthandwerker (Artisans) haben sich voll und ganz dem Trend des guten Essens verschrieben: Natürlichkeit und Regionalität der Zutaten. Bei Pierre Hermé, dem Picasso (der Künstler malte in Saint-Germain) französischer Pâtisserie, leuchten die vielleicht buntesten Macarons, bei Jean-Charles Rochoux' gibt es Pralinen mit der Duftnote Zigarre. Wem bei "Premier Pression Provence" noch nicht schlecht ist, kann dort Olivenöl-Variationen, Trüffelpesto etc. verköstigen.

Nach einem Verdauungsspaziergang durch den musischen Jardin du Luxembourg lehnt man auf einer luxuriösen Seine-Kreuzfahrt süße Macarons dankend ab. Paris rauscht vorbei, nun aus einer neuen Perspektive, der Benzingeruch erinnert an die Ente vom Vortag: L'amour liegt in der Luft. (Sebastian Gilli/DER STANDARD/Printausgabe/30.04.2011)