"Ich hätte mir einen Integrationsstaatsekretär mit Migrationshintergrund gewünscht, egal ob türkischer, serbischer oder anderer Herkunft, der mit dem Thema Migration bereits konfrontiert wurde."

Foto: Güler Alkan
Foto: Karin Fischer Verlag

Melih Gördesli ist 25 Jahre alt und lebt seit seinem dritten Lebensjahr in Wien. Während seines Studiums der medizinischen Informatik, das er mittlerweile abgeschlossen hat, fing er an als "Betroffener" Notizen über seine persönliche Sicht zum Thema Migration zu schreiben.

Herausgekommen ist ein kleines Büchlein mit vielen Erinnerungen aus seiner Kindheit und Schulzeit, welches aber auch Bezug auf die aktuelle Integrationsdebatte nimmt. DaStandard hat den jungen Autor in einem persönlichen Gespräch über sein Buch und seine Ansichten zum Thema Integration befragt.

daStandard.at: Wie sind Sie darauf gekommen ein Buch über Ihre Erinnerungen und Anschauungen als Einwandererkind zu schreiben?

Gördesli: Hauptsächlich hat es emotionale Hintergründe. Ich wollte mit dem Buch den Lesern und Leserinnen die Möglichkeit geben, die Welt durch unsere Augen zu sehen - durch uns Immigranten. Wir landen immer wieder in Medien und werden zur Zielscheiben degradiert. Ich hab gesehen, dass das Wissen über uns fehlt, und dieses mangelnde Wissen wollte ich durch das Buch kompensieren.

daStandard.at: Am Anfang Ihres Buches erzählen Sie von Ihrer Ankunft mit drei Jahren, als Sie mit Ihren Eltern von Deutschland nach Österreich eingereist sind. Ein alter, nach Verwesungsgeruch riechender Gang, der in eine Einzimmerwohnung ohne Bad und WC, mit schäbiger Küche und feuchten Wänden führt. Wie hat Sie diese Zeit geprägt?

Gördesli: Als Kind hat mich das schon geprägt. Aber das haben wir alle durchgemacht, speziell meine Generation und die davor. Man hat in dieser Armut gelebt, in kleinen Wohnungen zu viert oder zu fünft. Es war sicher kein leichtes Leben, das wissen viele Inländer nicht. Dabei gibt's ja heute immer noch Familien, die in kleinen Wohnungen untergebracht sind. Heute werden die Migranten als Sozialschmarotzer beschimpft oder diejenigen, die dem Inländer den Job wegnehmen. Beides gleichzeitig, wobei das ja ein Widerspruch ist.

daStandard.at: Sie beschreiben ja auch Szenen, die man sich in Österreich so nicht vorstellen kann. Im Winter, wenn die Wasserleitungen zugefroren waren und Sie mit Ihrer Schwester nach draußen Schnee holen gegangen sind, den ihr dann geschmolzen als Wasserersatz verwendet habt.

Gördesli: Viele wissen gar nicht, was wir oder unsere Eltern durchgemacht haben, um hier ein neues Leben anzufangen. Viele haben noch immer den Eindruck, dass wir hier herkommen, dass wir schon eine Wohnung geschenkt bekommen und vom Sozialamt alles hinterher geschmissen wird. Diese Einstellung gibt's bei den Inländern und das stimmt eben nicht ganz.

daStandard.at: Sehen Sie sich immer noch als Ausländer oder als Österreicher?

Gördesli: Die richtige Frage sollte lauten, ob mich der Inländer als Ausländer sieht oder als Österreicher.

daStandard.at: Anfangs war Ihr Deutsch ja nicht so gut, Sie haben aber durch regen Kontakt mit einem österreichischen Nachbarskind, das gegenüber von euch, in einem besser ausgestatten Zinshaus gelebt hat, schnell die deutsche Sprache gelernt. Im Buch stellen Sie fest, dass deutsch- und nicht-deutschsprachige Kinder heute eigentlich öfter beim gemeinsamen Spielen zu sehen sein sollten. Warum kommen solche Szenen nicht so oft vor, wie Sie sich das eigentlich wünschen würden?

Gördesli: Das kann jetzt mehrere Gründe haben. Ich beziehe mich jetzt speziell auf Wien, weil ich hier aufgewachsen bin. Aus meiner Sicht gibt es zwei Hauptgründe. Zum einen ist das historisch bedingt - Stichwort Türkenbelagerung. Dass dieses Feindbild, speziell bei den Wienern, von Generation zu Generation weitergegeben wurde.

Zum anderen haben wir in Wien speziell sehr viele ältere Menschen, die Veränderungen in den Gassen, in der Öffentlichkeit viel stärker wahrnehmen. Das kommt für sie bedrohlich rüber. Wenn wir jetzt zum Beispiel den Freitag hernehmen, da haben ja die Muslime Freitagsgebete. Bedingt durch die Gebetsräume, die sich meist in den Kellern von Häusern befinden, versammeln sich die Muslime auf der Straße und der Inländer fühlt sich dadurch bedroht und weiß gar nicht, dass da drinnen ein Freitagsgebet stattfinden wird.

daStandard.at: Jetzt haben Sie die Gebetsräume in den Kellern angesprochen. Im Buch plädieren Sie dafür, dass Menschen nicht mehr in Kellern beten müssen. Aber große Moscheezentren stoßen ja auch auf Widerstand in der Bevölkerung.

Gördesli: Eine richtige Moschee mit angepasster Architektur, natürlich, wäre ein guter Schritt in die richtige Richtung. Grad wenn man den Muslimen Keller oder Lagerräume als Gebetsräume überlasst, entsteht dort eine Parallelgesellschaft. Das macht auch kein gutes Bild beim Inländer, der freitags oder an religiösen Feiertagen diese Mengen sieht und sich gestört fühlt, was ich natürlich nachvollziehen kann.

daStandard.at: Sind Sie religiös?

Gördesli: Ich bin dafür dass die ganze Religionsgeschichte Privatsache bleiben sollte. Ob ich jetzt an Gott glaube oder nicht, das sollte eigentlich niemanden was angehen, auch die Medien nicht. Aber ich sag's mal offen, ich bin nicht gerade ein Fan von Religion.

daStandard.at: Aber trotzdem treten Sie dafür ein, dass gläubige Muslime in Moscheen statt in Kellern beten.

Gördesli: Obwohl ich jetzt keine Nähe zur Religion habe, finde ich es nicht gerecht, dass die einen in den Kellern Ihre Religion praktizieren und die anderen in den Kirchen. Das sehe ich eigentlich nicht ein.

daStandard.at: Ihr Buch trägt ja den Titel "Ohne Heimat". Fühlen Sie sich als Österreicher oder als Türke, oder beides?

Gördesli: Das habe ich schon akzeptiert, dass ich einfach zwischen diesen Gesellschaften leben muss, einfach in einem Nichts. Unsere Generation muss das durchmachen. Wir müssen jetzt schauen, dass sich die neue Generation zuhause fühlt.

daStandard.at: Sie haben erwähnt, dass vor allem in Wien viele Menschen, ablehnend gegenüber Einwanderern mit muslimischem Hintergrund sind, vor allem wenn sie aus der Türkei kommen. Hat sich das seit Ihrer Kindheit geändert oder sind Sie damit immer noch konfrontiert?

Gördesli: Das hat mich ständig begleitet. Bei mir fing das schon in der Volksschule an, dann weiter in der Hauptschule, im Gymnasium, in der HTL. Je älter man wird, desto besser kann man es handhaben. Aber irgendwann kann man es nicht mehr akzeptieren. Irgendwann kommt der Punkt, wo du sagst: Ich kann das emotional nicht mehr verarbeiten, was sie über mich reden.

daStandard.at: Im Buch beschreiben Sie eine etwas merkwürdige Mathematikstunde, als Sie Schüler in einer HTL in Ottakring waren. Der Mathematik-Professor erklärt plötzlich, dass nur jemand mit deutscher Muttersprache und christlichem Glaubensbekenntnis ein Österreicher sein könne. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?

Gördesli: Im ersten Moment waren wir alle schockiert, auch die Inländer. Das war ein Moment, den ich nie vergessen werde. Da hab ich mir gedacht, ich werde nie als Österreicher akzeptiert. Das ist schade. Ich kann mich erinnern, dass ich in der Volksschule gerne die österreichische Flagge gezeichnet hab, mit dem Adler drauf. Aber das Bild wurde mir mit der Zeit weggenommen.

daStandard.at: Sie haben nach der HTL-Matura an der TU Wien medizinische Informatik studiert und vor kurzem Ihr Studium abgeschlossen. Junge, türkischstämmige Männer kommen in der Öffentlichkeit ja meist nur als kriminelle Schulabbrecher, als "Problem", vor. Tanzen Sie mit Ihrem Bildungserfolg aus der Reihe?

Gördesli: Ich hab das den Lehrern zu verdanken, die mich abgelehnt haben, mir die Weiterbildung gar nicht empfohlen haben. Ich bin einer, der kämpft. Durch den Frust und die Wut bin ich weitergekommen.

daStandard.at: Alle reden immer sehr gerne über das Thema Integration und Integrationsverweigerer, die den sozialen Frieden stören. Aber mit den Einwanderern selbst wird weniger geredet. Was müsste da noch gemacht werden? Was würden Sie dem neuen Integrationsstaatssekretär empfehlen?

Gördesli: Integration betrifft uns alle. Ich würde mir wünschen, dass er sich beide Seiten anhört, dass Lösungen gefunden werden, die beide Seiten zufrieden stellen, bis keiner mehr meckert. Auch die junge Generation sollte erhört werden. Ich hätte mir einen Integrationsstaatsekretär mit Migrationshintergrund gewünscht, egal ob türkischer, serbischer oder anderer Herkunft, der mit dem Thema Migration bereits konfrontiert wurde. Kurz spricht ja sehr von guten Deutschkenntnissen. Aber das allein reicht nicht. Man muss Migranten auch motivieren und akzeptieren, aber nicht widerwillig. In Deutschland werden türkische Einwanderer mittlerweile als vollwertige Bürger akzeptiert, in Österreich dauert das sicher noch zehn Jahre.