Zu den gut gepflegten Alltagsmythen gehört, dass Frühpensionen überwiegend leider unvermeidlich und unfreiwillig sind, wegen Krankheit, Invalidität oder Arbeitslosigkeit; und dass sie, wenn schon sündteuer, doch zumindest Leid vermindern, Wohlfahrt und Wohlbefinden erhöhen und damit gleichsam alternativlos Gutes tun.

Doch je besser die wissenschaftliche Datenlage wird, umso eher können wir Legenden auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, Märchen und Aberglauben von Wirklichkeit unterscheiden. Zuletzt hatte ich über Mental Retirement*, den "Gaga-Faktor" geistigen Vorruhestands berichtet, wonach Frühverrentung mit dem Arbeitsvermögen auch den Geist beschädigen, kognitive Fähigkeiten reduzieren, Gedächtnisschwund schon bei jungen Senioren bewirken und Verfall durch Inaktivität beschleunigen dürfte. Aber könnte nicht, wie im Falle mancher geistiger Behinderungen, subjektives Wohlbefinden objektive Beeinträchtigungen ausgleichen, Menschen Lebensqualität und Wohlsein ohne Berufstätigkeit finden lassen?

Eine junge Gerontologin und Medizinerin ist der Frage nach dem Zusammenhang von Frühverrentung und Wohlbefinden nachgegangen** - mit bestürzenden Befunden. So waren Wohlbefinden, Gesundheit und Lebensqualität von Frührentnern signifikant niedriger und Depressionen häufiger als bei weiter Beschäftigten und Normalpensionisten - und zwar auch dann, wenn man die Personen herausrechnet, die schon zu Pensionsantritt bei schlechter Gesundheit waren. Und Zwangsverrentung macht natürlich noch unglücklicher als freiwilliger Vorruhestand.

Doch entgegen Sozialkitsch-Mythen gehen überwältigende 77,1% der Österreicher /Innen freiwillig und nur 22,9% unfreiwillig (arbeitslos, krank oder kranker Angehöriger bzw. Freund) in Frühpension; gegenüber 95% freiwilligen Griechen und 45% freiwilligen Dänen.

Bei überwiegend frei gewählter Frühpension hat Österreich mit 76,4% die weitaus höchste Frühverrentungsquote (Holland 12,5%, Dänemark 20%, Schweden 21%), den geringsten Anteil von "Normalpensionisten" (10%) und Beschäftigten (13,5%) bei +55-Jährigen unter 11 SHARE-Daten Ländern. Also die perfekt programmierte Raunzerei und Anleitung zu Unglücklichsein bei selbst eingestufter Gesundheit, depressiven Verstimmungen und Lebensqualität unter den Aspekten Kontrolle, Autonomie, Selbstverwirklichung und Lebensfreude.

Wir wissen, dass Frühpensionswellen, die 90% vor 65 in den Vorruhestand spülen, Katastrophen in der Sozialversicherung auslösen müssen. Doch wir hatten still gehofft, dass diese sündteure, blinde Wohlfühlpolitik zumindest ein paar "Vintage"-Jahrgängen an Frührentnern tatsächlich ein bisschen Wohlgefühl und geborgtes Glück auf Kosten nachwachsender Generationen beschert. Nun haben wir die Bescherung zu wissen, dass die zweistelligen Milliarden Euro-Beträge jährlich für Frühverrentungen und Pensionsdefizite gleich dreifach verloren sind: Konsumschulden statt mehrfach selbstfinanzierender Sozialinvestitionen (etwa in Vorschulprogramme) und Humanausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung; crowding-out von allem und jedem, von Kindergärten bis außeruniversitärer Wissenschaft; und all das für Subventionen von Unglück und seelischem Elend statt der Förderung von Wohlfahrt und Wohlbefinden.

Selbstbetörender und selbstzerstörender geht's wirklich nimmer***. (Bernd Marin, DER STANDARD; Print-Ausgabe, 30.4.2011)