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Christian Gerhaher, hier 2010 im Royal Opera House in London

Foto: AP/Clive Barda

Wien - "Die Lust ist ja verrauschet, das Leid hat immer Zeit: Nun singe neue Lieder von alter Seligkeit." Diese nahezu völlig unbekannten Zeilen stammen aus - der Schönen Müllerin, und zwar aus einem jener Gedichte aus Wilhelm Müllers Zyklus, die Schubert nicht vertonte. Schwer zu sagen, ob das an ihrer schlichten Unbedarftheit lag oder ob man die (scheinbar) naive Seite bei den vertonten Liedern gar nicht wahrnimmt, weil man Schuberts Deutung schon mithört.

In der Geschichte zwischen Müllerin und Müller, besonders hinsichtlich des grünen Grundes für ihre Trennung füllen die unvertonten Texte jedenfalls eine Lücke. Bariton Christian Gerhaher las sie bei seinem Liederabend am Mittwoch im Musikverein mit derselben Eindringlichkeit und wortbetonten Akribie, die er auch in die Liedgestaltung einbringt.

Da ist nichts ohne Bedeutung. Jede noch so kleine Andeutung im Text, jede Veränderung in der Harmonik, jede noch so winzige melodische Wendung kann bei ihm eine ungeahnte interpretatorische Perspektive eröffnen. Der Sänger ist seinem großen Vorbild Dietrich Fischer-Diskau nicht nur in dieser hochgradigen Aufmerksamkeit für Details nahe, sondern auch im Timbre, genauer: in manchen Stimmfärbungen.

Aber zugleich klingt sein Bariton ausgesprochen eigen, sucht seine Deutung gemeinsam mit dem kongenial-intuitiven Pianisten Gerold Huber versteckte Wege im Gedicht-Musik-Dickicht. Gerhaher muss es bewusst sein, dass er über eine der derzeit nobelsten Stimmen verfügt, doch er setzt sie nie für bloßen Schöngesang ein.

Stattdessen verströmt er romantische Ironie; eine pessimistischere, schwärzere Interpretation des kurzen Liebesglücks wäre kaum denkbar. Das Lied Mein! wird etwa zum Wahnbild von jemandem, der sich etwas vorzumachen scheint. Und wenn es Gerhaher zwischen solchen Abgründen einfach strömen lässt, sind diese Momente noch ungleich kostbarer. (Daniel Ender/ DER STANDARD, Printausgabe, 29.4.2011)