Carsten Wieland: Syrien in entscheidender Phase.

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Nun führt kein Weg mehr zurück: Ein syrisches Mädchen hält trotz der blutigen Niederschlagung des Aufstands am Freitag an ihrem Widerstand gegen das Regime fest.

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Die Welle arabischer Revolutionen rückt immer näher an den Nahostkonflikt heran. Syrien hat anders als Ägypten keinen Friedensvertrag mit Israel, war aber stets ein stabiler und berechenbarer Feind. Syrien konnte zur Not auch der libanesischen Hisbollah Einhalt gebieten, wenn es politisch geboten erschien. Israel wird diesen Feind vermissen. Die Besetzung der Golan-Höhen diente beiden Seiten bisher als opportuner Status quo. Mit Hohn erinnern sich syrische Oppositionelle daran, dass das syrische Regime jahrelang den Ausnahmezustand durch den offiziellen Kriegszustand mit Israel gerechtfertigt hatte. Nun wird er plötzlich unter dem Druck der Straße - zumindest rhetorisch - aufgehoben.

Wie alle anderen Zugeständnisse, die bis vor kurzem als tektonische Veränderungen im verkrusteten Syrien wahrgenommen worden wären, hat auch dieser Akt inzwischen jeden politischen Effekt verloren. Ein versöhnlicher Ausweg scheint seit dem blutigen Karfreitag blockiert. Nun bleiben zwei Möglichkeiten: eine brutale Niederschlagung der Protestbewegung, die an das Massaker von Hama 1982 erinnert, als Hafiz al-Assad die syrischen Muslimbrüder für die kommenden Jahrzehnte politisch auslöschte. Oder ein Sturz des Regimes mit ungewissem Ausgang.

Einfluss ungleich größer

Wegen der Nähe zu Israel ist Syrien auch für Al-Kaida ein interessantes Pflaster. Irans direkter Einfluss auf den Libanon könnte steigen. Alles, was in Syrien passiert, wird einen direkteren Einfluss auf die regionalen Konstellationen haben als bei den bisherigen Revolutionen in Ägypten und Tunesien.

Noch sind die Unruheherde in Syrien dezentraler, klare politische Banner sind seltener, der Organisationsgrad geringer. Die Massenaufläufe in den syrischen Städten und Dörfern erscheinen als ein Teufelskreis der Empörung, der von einer Beerdigung zur nächsten im Kugelhagel der Sicherheitsdienste eskaliert. Doch Tausende, die die jahrzehntelange Angst überwinden und auf die Straße gehen, können nicht alle Kriminelle oder Islamisten oder ausländische Verschwörer sein.

Dies ist eine entscheidende Phase der Revolution: Auch in Tunesien und Ägypten hatten die Machthabenden versucht, die Proteste zunächst zu kriminalisieren, Verschwörungstheorien zu streuen und ausländischen Interessen die Schuld zuzuweisen. Sicher sind syrische Oppositionelle im Exil aktiv, die Unruhen zu schüren. Der ausländische Anteil am syrischen Szenario mag höher liegen als in Ägypten und Tunesien. Nicht zuletzt deshalb, weil Bashar al-Assad Oppositionelle ins Ausland getrieben und persönliche Feinde im Exil hat wie seinen Onkel Rifat al-Assad oder den langjährigen Vizepräsidenten Abdul Halim Khaddam, der 2005 überraschend nach dem Mord an Libanons Premierminister Hariri ins Pariser Exil getürmt ist.

Auch das Baath-Regime hat dem Westen jahrelang die Alternative verkauft: Säkularismus und Stabilität (mit uns) oder Islamismus und Chaos. Tunesien und Ägypten haben jetzt die Chance zu beweisen, dass das nicht stimmt. Der Gemeinschaftsgeist und die Zivilität der Proteste auf dem Tahrir-Platz haben gezeigt, dass die Demonstranten einen neuen zivilen und friedlichen Nationalismus geschaffen haben. In Syrien haben religiöse Toleranz und Koexistenz eine weit längere Geschichte als das Baath-Regime. Säkulare Oppositionelle haben immer wieder betont, dass Syrien Heimat einer pragmatischen sunnitischen Handelsklasse ist, die sich fanatischen Salafisten nicht anschließen wird.

Nun kommt es darauf an, ob es dem Regime in Damaskus erneut gelingt, die gemäßigten zivilgesellschaftlichen Kräfte mit Verhaftungen und Folter zu unterdrücken und die Gespenster sektiererischer und islamistischer Gewalt heraufzubeschwören. Durch die Dezentralität der Proteste steht die zivilgesellschaftliche Intelligenzija vor enormen Herausforderungen, den Protesten ein einheitliches politisches Gesicht zu geben.

Eines ist jedenfalls eingetreten: Die ideologische Klammer zwischen Regime und Bevölkerung ist brüchig geworden, die lange als Garant für Ruhe in Syrien galt. Die antiisraelische und antiamerikanische Haltung, der Pan-Arabismus - alles Unterschiede zur Gemengelage in Ägypten und Tunesien - haben das Regime nicht vor dem Zorn der eigenen Bevölkerung bewahrt. Die Probleme waren stärker: Willkür, Unfreiheit, Korruption, soziale und wirtschaftliche Chancenlosigkeit.

Assad Teil des Problems

Vor wenigen Wochen teilte Bashar al-Assad noch Ratschläge aus für seine arabischen Amtskollegen, die schneller Reformen verwirklichen sollten, bevor es zu spät sei. Heute wird er nicht mehr gerne an sein Interview im Wall Street Journal vom 31. Januar erinnert. Syrien sei stabil, sagte er damals, weil es eine Übereinstimmung zwischen Regierung und Regierten gebe.

Assad wird sich zu alten Zeiten zurücksehnen, als er noch durch elaborierte Deklarationen der oppositionellen Zivilgesellschaftsbewegung konfrontiert wurde; als die Opposition Assad als Teil einer "weichen Landung" im Übergang zur Demokratie einbinden wollte; als Widerstand durch die Gründung von Debattierklubs und konspirativen Treffen im Rauch der Wasserpfeifen der Damaszener Teehäuser definiert wurde. Inzwischen definiert sich Widerstand im Aufmarsch von Massen und im Rauch der Schusswaffen. Syriens Weg ist unkontrollierbar geworden.

Hätte Assad die intellektuelle Opposition nicht seit 2001 wie ein Bündel Krimineller behandelt, hätte er sie heute als Brücke zur nationalen Versöhnung auf dem Weg zum politischen Pluralismus in Syrien nutzen können. Doch angesichts der Gewalt sehen immer mehr Syrer Assad als Teil des Problems und nicht mehr als Teil der Lösung. Und international liegen alle Anstrengungen der letzten zwei Jahre in Scherben, Syrien international wieder hoffähig zu machen. (Carsten Wieland, STANDARD-Printausgabe, 27.04.2011)