Es scheint, als ob das einzige, was die Menschen in Istanbul gemeinsam haben, der Verkehr ist.

Foto: Yilmaz Gülüm

Das Leben verläuft hier aber für jeden in einem anderen Tempo.

Foto: Yilmaz Gülüm

Hier kreuzen sich die Stadtteile Feriköy, Osmanbey und Nişantaşı.

Foto: Yilmaz Gülüm

Letzte Woche habe ich an dieser Stelle versucht, Eindrücke aus dem Studierendenleben zu vermitteln. Eines habe ich dabei aber verschwiegen: Es findet in einer Seifenblase statt. Die meisten Auslandsstudierenden leben in einer eignen, von Einheimischen bis auf wenige Ausnahmen abgeschnittenen Sphäre. Diese eigene Welt setzt sich zusammen aus kleinen und größeren Gruppen, viele davon durch die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Unterkunft oder die gemeinsame Studienrichtung definiert.

Diese Separation  hat viele Gründe. Einer davon ist sicherlich die Sprachbarriere, denn die durchschnittlichen Englischkenntnisse von Einheimischen sind leider recht bescheiden. Jedenfalls möchte ich diese Woche einen Blick außerhalb dieser Seifenblase geben. Denn wie ich im ersten Blogeintrag geschrieben habe, bin ich eigentlich nicht hierhergekommen, weil ich ein ungestilltes Interesse an Bars, Cafés und sonstigem habe. Ich wollte als jemand, der ständig Türke genannt wird, wissen, wie es denn so ist, in der Türkei.

Zuhören und lernen

Man kriegt davon zwar recht schnell eine ungefähre Ahnung, darauf ist aber nicht wirklich Verlass. Wie ich das sehe, gibt es zwei Wege: hier dauerhaft leben, oder zuhören. Für mich kommt momentan nur Zuhören in Frage.

Zuhören kann man zum Beispiel fremden Menschen. Immer wieder ergeben sich zufällig Gespräche. Das kann beim Friseur, ebenso wie an der Bushaltestelle passieren. Manchmal redet man über das Wetter, manchmal über Politik, gar nicht so selten über Verschwörungstheorien aller Art. Die Themen sind aber eigentlich gar nicht so wichtig.

Der Friseur, der am liebsten kein Friseur wäre

Es braucht wohl nicht allzu viel Fantasie um zu verstehen, dass der Friseur um die Ecke ein anderes İstanbul erlebt als wir Auslandsstudierenden. Mein Friseur heißt Aşkın. Er wäre am liebsten kein Friseur. Irgendwas anderes, sagt er.

Er schneidet für 2,5 Euro Haare und arbeitet zwölf Stunden lang, sechs Tage in der Woche. Er sieht das "echte İstanbul" im Stadtteil Bebek, das "Paris von İstanbul", wie es manche nennen. Dort sieht man Menschen von Luxusyachten in Luxusautos umsteigen. Der Blick auf den Bosporus sorgt in edlen Restaurants und Cafés für das passende Ambiente. Haare schneiden kostet dort 30 Euro.

Der Stadt zuhören

Es wäre interessant herauszufinden, wie viele Stunden ein Taxifahrer hier im Jahr im Stau steht. Das Ergebnis wäre wohl erschreckend. İstanbuls Bevölkerung hat einen rasanten Wachstumsschub erlebt. 1980 lebten hier noch unter fünf Millionen Menschen. Heute weiß man es nicht genau, aber zwischen 15 und 18 Millionen dürften realistisch sein.

Ordnung im Chaos

Man merkt oft, dass die Infrastruktur der Stadt nicht für diese Massen konzipiert ist. Anfangs kam mir das Wort Chaos oft in den Sinn, um die Abläufe im Alltag zu charakterisieren. Genauer hingeschaut merkt man aber, dass in diesem Chaos eine gewisse Regelmäßigkeit steckt. Auch wenn man hier nie genau weiß, was als nächstes passiert.

Wenn ein Bus gerade im Verkehr oder an einer Ampel steht, kann man ein- und aussteigen. Haltestelle hin oder her. Was öffentliche Verkehrsmittel angeht, lehrt einem das Leben hier Geduld. Manchmal verspäten sich Busse zehn Minuten, manchmal 20 Minuten. Und manchmal kommen sie gar nicht.

Wenn man etwas zu essen kaufen möchte und ein paar Cent zu wenig Kleingeld dabei hat, dann ist das meistens auch kein Problem. Überhaupt wenn man den Menschen ein paar Sekunden Aufmerksamkeit und Anerkennung schenkt und ihnen wie gesagt ein bisschen zuhört.

Und wenn es regnet, tauchen von irgendwo ziemlich schnell Menschen auf, die Regenschirme verkaufen. Wenn es aufhört zu regnen, verschwinden sie ebenso schnell wieder. Wenn die Sonne scheint, sieht man Verkäufer, die Sonnenschirme verkaufen. Ziehen Wolken auf, verschwinden sie wieder von den Straßen. Wo diese Menschen so flott herkommen, und besonders wo sie ihre Schirme versteckt halten, konnte ich bislang nicht herausfinden.

Die unterschiedlichsten Bezirke

İstanbul ist aufgrund seiner Größe wie eine Stadt, mit vielen kleinen Städten aufgebaut. Wenn ich nicht wollte, müsste ich meinen Bezirk nie verlassen. Vom Krankenhaus bis zum kleinsten Geschäft befindet sich alles in unmittelbarer Umgebung.

Die Bezirke sind untereinander sehr unterschiedlich. Von meiner Wohnung aus kann ich etwa Kirchenglocken hören. Auch den Muezzin, wenn es draußen ruhiger ist. Ein Stückchen weiter befinden sich eine Synagoge und ein Gebetsraum der Zeugen Jehovas.

Das soll sicher nicht heißen, dass die Türkei ein Musterschüler im Umgang mit Minderheiten ist, mitnichten. Das heißt nur, dass man nicht ohne weiteres pauschalisieren kann. Es gibt auch Bezirke, in denen man kaum Alkohol kaufen kann und in denen Frauen ohne Burka in der Minderheit sind.

İstanbul ist eine sehr kosmopolitische Stadt. Außer einem Universitätsprofessor kenne ich bislang keinen, der länger als zwei Generationen hier seine Wurzeln hat. Das macht die Stadt sehr bunt, birgt aber auch Nachteile. Es ist jedenfalls schwer das "normale" İstanbul zu beschreiben, denn wie auch letzte Woche gesagt: Diese Stadt hat viele Gesichter.

Und für meine aufmerksamen LerserInnen: die Prüfungen vergangene Woche waren zwar vom Leistungsanspruch her niedriger als ich es von Wien gewohnt bin, von "blaablaa" kann aber nicht die Rede sein. (Yilmaz Gülüm, 26. April 2011, daStandard.at)