Vom Gastgarten im zweiten Stock ginge es dann nur noch weiter in die Baumkrone, ich vermute ja stark: Linde.

Restaurant zur Linde in Mistelbach,
Zwei Gänge, Saft, Wasser, Kaffee: 39,30 Euro.

Foto: Harald Fidler

Auch Käseschüsseln werfen im Abendlicht lange Schatten: Roastbeef, Spargelmousse, und der Salat im Käse.

Foto: Harald Fidler

Wo wir ihn finden: Hirsch unter Linden.

Foto: Harald Fidler

Psychedelische Wegzehrung für die Anreise: Österlicher Borscht mit Ei in Brenna.

Foto: Harald Fidler

Pierogi russki, aber in Polen. Lokal auf Anfrage. Dafür muss man aber nicht so weit reisen.

Foto: Harald Fidler

Der erste Einstiegssatz ist fast so lang wie die Anreise: Man kann auch über Brenna nach Mistelbach fahren, wenn man mittags Borscht (zu Ostern mit Geselchtemgeschmack und hartem Ei, optisch ein psychedelisches Bilderrätsel, geschmacklich durchaus gut) und russische Pierogi (die dank Speckwürfeln drauf dann doch nicht ganz vegetarisch sind) in einem relativ entspannten, aber definitiv nicht schönen polnischen Landgasthaus probieren will, dessen Namen man gleich wieder vergisst (kann ich aber auf Wunsch gerne nachfragen, man muss dafür aber definitiv nicht soweit fahren). Das macht dann von Wien ziemlich genau 666 Kilometer nach Mistelbach. Es geht aber natürlich auch einfacher und ökologisch ein gutes Stück unbedenklicher.

Der Bahnhof im zweiten Stock

Sie könnten zum Beispiel mit der Bahn herkommen, entdecke ich im zweiten Stock, als ich mich in den Gastgarten setze. Dann entgeht Ihnen aber zwingend und naturgemäß mein Aha-Erlebnis, das Hotel vom Gästeparkplatz an der Mistelbacher Straße zu betreten, an der Rezeption vorbeizukommen, nach Essen zu fragen - und, vermutlich, der Chef, also, vermutlich, Herr Polak, schickt Sie in den zweiten Stock. Ja, auch der Gastgarten. Ich überlege nicht lange, ob das an der langen Fahrt, dem frühen Aufbruch oder der überdehnten Fastenzeit liegt, überwinde zwei Stockwerke, durchquere gepflegte, aber nicht unbedingt schöne Frühstücks-, Schank- und Speiseräume - und stehe statt auf einer Dachterrasse vor dem Bahnhof. Vor allem aber unter strahlend blauem Weinviertelfrühjahrshimmel, gerade recht gefiltert vom frischen Laub alter Gastgartenbäume. Das fängt ja schön an.

Ja, zum Essen kommen wir auch gleich. Aber erst ein paar Grundfragen des Landgasthauswesens, wobei ich nicht ganz sicher bin, ob sich die Linde als Landgasthaus sieht mit ihrem laut Webseite "Stadthotel". Das klingt jetzt von einem Wahlwiener ein bisschen abschätzig, aber: Mistelbach ist ja tatsächlich eine Stadt, wiewohl erst seit 1874, wenn ich das richtig gegoogelt habe. Gegen Landgasthaus spricht auch mancher Eintrag auf der Linden-Karte.

Tilapa am Land

Nun gibt es ja rasch auf dem Land Thunfisch (ohne h schaff ich den nur schwer) oder Branzino oder auch Tilapa. Aber in Tempura gebackener Pulpo deutet mir auf engagiertere Überregionalität hin. Ebenso das Filet vom Königssnapper, und die Shiitakepilze zur Flugentenbrust klingen mir auch nicht ganz weinviertlerisch.

Nun fragt sich der Fidler gern und immer gerner, ob das Essen wirklich so weit reisen muss. Er könnte sich natürlich auch an der Nase nehmen, gerade heute, und fragen, ob der Esser soweit reisen muss. Aber: Hier bin ich entschuldigt, die Bahn hätte mir beim ersten Teil der Reise nicht helfen können, und nach Mistelbach verschlug es mich ja nur auf der Rück-, also Durchreise.

Und, etwas grundsätzlicher: Man kann den Wirt in einer etwas kleineren Stadt schon verstehen, der seinen Gästen ein bisschen mehr bieten will als gebackenes Schweinsschnitzel, Zwiebelrostbraten, Tafelspitz und Grillteller mit Pommes und dreierlei Saucen, vielleicht noch geschmorten Lammschlögel, Schweinsfilet mit Speckbohnen und Thymianpolenta, die Flugente und den Hirschen. Aber, liebe Land-Wirte aller Länder, die Besten schauen sich halt inzwischen in der Nachbarschaft um. Da muss man jetzt gar nicht zum Noma verlinken, kann man aber natürlich. Reicht aber auch, um in der Gegend zu bleiben, die 66-Kilometer-Maxime vom Herrn Floh.

Turbolader

Auch der Turbolader prägt das Land, das schon in 1010 anfangen kann. Was nicht alles auf einen Teller passt, nicht nur schier mengenunmäßig, auch an Bei-, An- und Zulagen und -gaben. Auch im zweiten Stock von Mistelbach tummelt sich da einiges auf dem Teller. Zum Beispiel beim Roastbeef mit Spargelmousse und Senfgurken, das sich ohne Salat nicht auf den Tisch traut, und der wiederum nicht ohne das Käseschüsserl, in dem er zu liegen kommt. Aber: Alles eigentlich sehr, sehr erfreulich, und das Käseschüsserl kann man ja überwiegend oder ganz übrig lassen, wenn man's nicht braucht. Aber man hätte es auch verputzen können. 

Mistelbauch

Richtig viel los auch beim rosa Hirschfilet, über die angekündigte Peterwurzcreme und den Morchelrahm hinaus, der sich als erfreulich dezent rahmige Morcheln entpuppt. Unter dem Filet kommt dann noch Polenta, wenn ich mich recht entsinne, und auf der wiederum - puh, was war das nochmal? Wenn man nicht alles mitschreibt: womöglich Paradeiserstückchen? Leider vergessen, das überstieg meine Speicherkapazität. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit war der Hirsch zudem eingekreist von adretten Speckfisolenröllchen und lila Trüffelerdäpfelchips, umspült wiederum von sehr kräftiger Bratensauce. Bestreut mit Walnussstückchen lag das Tier da in drei prächtigen Scheiben, zart und wunderbar. Und bei aller Skepsis gegen so übervolle Ladungen: Mir erschien die Kombination schlüssig - man kann sich wirklich gut den Mistelbauch vollschlagen. Nein, Übermüdung stimmt mich normalerweise nicht milde.

Ein Rätsel ersparen Sie sich auch, wenn Sie mit der Bahn anreisen und nicht müde, aber gut satt bis zur Rezeption absteigen: Stand da nicht in der Vitrine "Top Wirt 2011"? Ging diese Auszeichnung des niederösterreichischen Promotionvereins Wirtshauskultur nicht an Adi Bittermann in Göttlesbrunn? Ach, es gibt nicht nur einen "Top-Wirt" des Jahres, sondern auch 60 "Top-Wirte" im ganzen Bundesland? Man kann eben auch Top noch toppen, auch in der Breite. Unter die 60 besten Wirtshäuser Niederösterreichs kann man die Linde aber definitiv und ohne Übertreibung einreihen, würde ich sagen. Vielleicht sogar noch in eine engere Auswahl.

Was empfehlen Sie im Weinviertel?

PS: Kommendes Wochenende lädt das Weinviertel zum "Weinwandern". Das hat mit meinem Besuch zwar rein gar nichts zu tun, passt aber zeitlich ganz gut.

PPS: Nein, ich war nicht für den Rund-um-die Uhr-Nachtklub in Brenna, dessen Schild an der Straße auf andere Vergnügungen als Pierogi verweist. Das wäre mir viel zu paradox, gerade untertags.

PPPS: Wo wir schon beim Paradoxen sind: Im Weinviertel gibt es ein empfehlenswertes Wirtshaus, dessen interessante Öffnungszeiten fast verhindert hätten, dass ich es in diesem Leben noch erkunde. Diese Gaststätte ist auch schuld, dass ich bei der Linde einfiel. Sie hatte noch einen extra Ruhetag eingebaut. In dem Fall: danke dafür! Mehr dazu  demnächst hier. Oder wissen Sie schon, welchen Wirt ich meine? Und: Was empfehlen Sie im Weinviertel?