Bild nicht mehr verfügbar.

Wie ein Blitz saust der Centovalliexpress durch das Tessin, wo der Süden beginnt.

Foto: Bernhard Kuh / Sodapix / Corbis

Zweimal täglich (außer Montag) kann man vom Besucherzentrum "Gottardo Sud" aus ein Stück in den Gotthard-Basistunnel einfahren, allerdings ist dafür eine Reservierung notwendig. Unangemeldet und gratis möglich ist der Besuch des Infozentrums, in dem der Bau des Tunnels und der Alpentransitverkehr der Zukunft übersichtlich und informativ dargestellt werden. Aus österreichischer Sicht besonders interessant: Wie die Schweizer den Bau des Eisenbahnbasistunnels als nationalen Kraftakt und Teil ihres Selbstbewusstseins inszenieren. Auskünfte im Internet: www.alptransit.ch und www.infocentro.ch

Foto: AlpTransit Gotthard AG

Anreise: Die meisten Wege ins Tessin führen über Zürich. Und das ist entweder auf Schienen mit dem Railjet der ÖBB, dem Nachtzug "Wiener Walzer" oder durch die Luft mit Austrian, Swissair oder Airberlin erreichbar. Vom Zürcher Hauptbahnhof fahren Intercity-Züge stündlich nach Bellinzona und Lugano. Auch nach Locarno gibt es täglich mehrere Direktverbindungen. Nähere Auskünfte bei: www.railtours.at, allgemeine Informationen zur Schweiz bei Schweiz Tourismus oder direkt bei den Schweizerischen Bundesbahnen.

Foto: Schweizerische Bundesbahnen SBB

Im frühen Stadium des Frühlings ist der Temperaturschock besonders stark. Auf der Nordseite der Alpen regiert noch Väterchen Frost, die Gipfel sind weiß, die Wiesen braun, und kalter Wind treibt Regen- oder Schneewolken über die Täler. Dann taucht der Zug in den Tunnel und dahinter in südlicher Sonne auf, der Himmel ist azurblau und die Natur zeigt ihr erstes sattes Grün. Die größte Überraschung kommt aber erst beim Aussteigen aus dem klimatisierten Wagon: diese Luft! Dieses laue Lüftchen, das den Geruch des Südens bringt. Dazu Pinien und Palmen. Wir sind - nicht in Italien - aber fast. Wir sind im italienischen Kanton der Schweiz, im Tessin.

Knapp mehr als zweieinhalb Stunden brauchen heute die EC-Züge der SBB von Zürich nach Lugano. Frühestens ab 2016 werden es nur mehr eineinhalb Stunden sein, wenn der längste Tunnel der Welt, der Gotthard-Basistunnel, sowie der weitaus kleinere Ceneri-Basistunnel für den Bahnverkehr eröffnet werden. Viel Zeit wird dann mit der Fahrt durch die 57 Kilometer lange Röhre gewonnen sein, ein Reiseerlebnis aber verlorengehen - die Fahrt über die 130 Jahre alte Gotthard-Strecke mit ihren Brücken, Viadukten, Kehr- und Spiraltunneln.

Wer aber jetzt noch fünf Jahre warten will, um dann mit 250 km/h gegen Süden zu rasen, der wird ohnehin zu spät kommen. Die Tessiner erhoffen sich durch den Gotthard-Basistunnel goldene Tourismuszeiten, die Hotels bauen aus, die Immobilienpreise steigen. Aus dem kalten Norden Deutschlands sind es dann nur eineinhalb Flugstunden nach Zürich, und vom Flughafen fahren die Züge direkt nach Lugano und Locarno. Für die Zürcher wird die Fahrt zu den Gestaden des Luganer Sees zum Sonntagnachmittagsausflug.

Natürlich, Geheimtipp ist das Tessin seit dem Bau der Gotthardbahn nicht mehr. Die Herausforderung heute ist eher, Orte zu finden, die nicht von Industriellen des 19. Jahrhunderts zur Kunstlandschaft umgebaut oder von verschrobenen deutschen Künstlern zum Alterssitz erwählt wurden. Die entlegenen Seitentäler? Keine Chance, dort sitzen Zürcher Alternative schon seit den 60erJahren. Bleiben wir also in den Zentren, die ihre Schönheiten gut zu verstecken wissen. Bellinzona zum Beispiel sieht durch das Zugfenster nach neuer Industrie und alten Bahnanlagen aus, sehr geschäftig, aber wenig charmant. Dabei liegt der pittoreske Teil des alten Handelszentrums gar nicht so weit weg vom Bahnhof, in der kleinen Altstadt, die man am besten an einem Samstagvormittag besucht, wenn die Bauern der Umgebung ihre Köstlichkeiten anbieten: Hirschsalami, den weißen Speck Lardo und alles, was man für eine Tessiner Wurstplatte braucht, dazu Käse aus dem Valle di Muggio. An ei-ner Hausecke wird dampfende Polenta aus einem Kessel heraus verkauft. Solche Köstlichkeiten müssen gut bewacht werden. Gleich drei Burgen thronen über der Stadt, eine Mauer quer durch das Tal und über die Hügel verbindet sie. Die "tre castelli" galten im Mittelalter als uneinnehmbar und sicherten ihren Herren unermesslichen Reichtum, denn jeder Händler der aus den Schweizer Urkantonen nach Italien wollte (und wieder zurück), musste hier Tribut zahlen. Vor zehn Jahren wurden Bellinzonas Burgen von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Heute wird Bellinzona von den Gästen aus dem Norden eher gemieden, sie steigen hier höchstens in die Lokalbahn Richtung Locarno um.

Die meisten Schnellzüge fahren weiter über den Ceneri-Pass (der auch gerade für die Bahn durchlöchert wird) nach Lugano und an den Luganer See. Lugano, die Hauptstadt des Kantons, ist etwas chaotisch, voller Autos und Baustellen. Aber das macht wohl den Reiz des Tessins aus: Italianità, kombiniert mit Schweizer Organisation. Die Küche ist italienisch, aber die Züge sind dennoch pünktlich und fahren auch im Tessin im Stundentakt. Einziger Nachteil: Auch die Preise im Tessin haben Schweizer Niveau. Wer das Chaos auf Luganos Straßen vermeiden will, nimmt das Boot und lässt sich auf sanften Wellen zu den ehemaligen Fischerdörfern schaukeln. Das monströse Gebäude am Südufer, das an den "Moloch" aus Fritz Langs Film Metropolis erinnert, ist ein neues Spielkasino, erbaut von Stararchitekt Mario Botta. Es steht nicht auf Schweizer Boden, sondern in der italienischen Exklave namens "Campione".

Wir lassen den Tempel der Spielsucht links liegen, schippern unter der Brücke hindurch, auf der Bahn und Autobahn Richtung italienischer Grenze verlaufen, und befinden uns auf einmal in der Welt der großbürgerlichen Sommerfrische. Morcote war in alter Zeit ein Fischerdorf, das sich seinen Charme bewahrt hat, auch wenn es heute als beliebtes Touristenziel gilt. Den Reiz der hohen Zypressen und engen Gassen am Seeufer hatte schon im 19. Jahrhundert der Industrielle Artur Scherer geschätzt, der hier einen "Magischen Park" mit subtropischer Vegetation und griechischen Tempel anlegte.

Seit den Sechzigerjahren ist der "Park Scherer" der Öffentlichkeit zugänglich. Man kann jetzt, im Frühling, stundenlang durch diese Park schlendern, vorbei an blühenden Zitronen und Orangenbäumen, den Geruch des Südens einatmen und dann kurz an die Freunde und die Familie im Norden denken. (Bernhard Odehnal/DER STANDARD/Printausgabe/16.04.2011)