Bild nicht mehr verfügbar.

Untaugliche Versuche, als Jude der Hetze durch die feine Wiener Gesellschaft zu entgehen: Joachim Meyerhoff als Professor Bernhardi, ihm zur Seite Caroline Peters als Dr. Cyprian.

Foto: APA/Neubauer

Wien - Im gleißenden Licht des Wiener Privatklinikums, das Karl-Ernst Herrmann leicht schräg auf die Wiener Burg-Bühne gestellt hat, herrscht Gewitterstimmung. Die Vertreter der Ärzteschaft rüsten für einen Ball. Kandidat Hochroitzpointner (Christoph Luser) probiert noch rasch ein paar Tanzschritte: Er knallt sie förmlich auf den Klinikboden. Sein Blick wandert zustimmungsheischend zur Stationsschwester (Stefanie Dvorak). Hochroitzpointner hat soeben eine öffentliche Generalprobe absolviert: So werden "wir" , die Wiener Medizinermeute mitsamt ihren Verbündeten in Presse und Politik, den jüdischen Kollegen Bernhardi in den Boden stampfen!

Der Ball ist ein bloßer Vorwand, eine Redensart, deren es im Wienerischen zahllose gibt. Im "Elisabethinum" , dem Schauplatz von Arthur Schnitzlers Komödie Professor Bernhardi, werden die Vorbereitungen für eine Hetzjagd getroffen. Das Opfer - der ein wenig spröde Bernhardi (Joachim Meyerhoff) - ist längst auserkoren: ein schmaler, erstaunlich junger Starmediziner als Klinikchef, der die Kollegenschaft mit verträumten Augen im unrasierten Gesicht und mit weichen, geschmeidigen Bewegungen auf Abstand hält. Der die aggressive Zudringlickeit seines Rivalen Ebenwald (Roland Koch) abwehrt, indem er dessen herausfordernder Präpotenz wie aus Schüchternheit ausweicht.

Der Jude Bernhardi ist das Produkt einer manifest antisemitischen Gesellschaft. Und niemand kann glauben, dass die gemächliche Umzingelung eines Opfers dessen Psyche nicht nachhaltig zerstört: Meyerhoffs Bernhardi besitzt das Gemüt eines schlaksigen Boxers, der die Schläge seiner viel zu vielen Gegner im Nu auspendelt - mit grämlichem Mund und mit ermüdeter Seele. Der sich hinter seinem Primarglastisch wie hinter einem Wall verschanzt. Der auf und ab läuft: das schöne, ein wenig exotische Tier, dessen Tage hinter einem Spalier aus Gitter-stäben längst gezählt sind.

Meyerhoffs Darstellung wirbt keinen Augenblick lang um wohlfeile Zustimmung; sie enthält eher die Leidenselemente der Shylock-Erzählung. Die Verletztheit Bernhardis, die Ohnmachtsattacken eines psychisch Versehrten, sie gehören einer Sphäre an, in der die Scham das Gefühl, gegenüber den Hetzern recht zu behalten, bei weitem überwiegt. Meyerhoffs meisterlicher Bernhardi bildet das finstere, zutiefst beklemmende Zentrum einer klug gedachten Inszenierung.

Fahne auf dem Dach

Denn die Geschichte der antisemitischen Haupt- und Staatsaktion erzählt Regisseur Dieter Giesing als spätösterreichische Begebenheit: Die Fahne der Republik weht hoch über dem Klinikdach. Die Ärzte in Professor Bernhardi sind die Produkte einer Sprachregelung: Im gehobenen Wienerisch dieser Akademiker treiben Bildungsversatzstücke unterschiedslos neben Stilblüten. "Juden" sind dann solche Menschen, denen ein "präponderantes Wesen" eignet.

Jede Figur aus der Ärztekamarilla ist scharf gezeichnet: Professor Ebenwald (Koch) verbirgt sein deutsch-nationales Agitationsbedürfnis hinter der Trockenheit des Betriebszynikers. Sein Kollege Tugendvetter (Klaus Pohl), über dessen Nachbesetzung Ebenwald mit Bernhardi in Streit gerät, besitzt das Gemüt eines akademisch Verblödeten.

Den Anlass für Bernhardis Martyrium aber bildet jene beispiellose Verleumdungskampagne, an deren Ende das Opfer als freigekommener Sträfling im Ministerium für Unterricht sitzen wird, fassungslos weinend, abgespeist mit den öden Lebensweisheiten eines Hofrats (Branko Samarovski).

Eine zum Tode erkrankte, durch Injektionen in Euphorie versetzte Patientin soll nicht die letzte Ölung erhalten: Bernhardi verwehrt dem Priester (Lucas Gregorowicz) den Zutritt zum Krankenzimmer, um das Abtreibungsopfer in der Illusion der Genesung zu wiegen.

Konzert der Phrasen

Dieser Akt tätiger Nächstenliebe führt zu einem Scherbengericht - und zur Anklage wegen Religionsstörung. Bernhardi wird beteiligter Zeuge eines Albtraumgeschehens: Freunde üben sich in allerlei Rücksichten (Caroline Peters als Vernunft verströmende Dr. Cyprian). Der zuständige Minister Flint (Nicholas Ofczarek), als Jugendfreund eigentlich ein natürlicher Verbündeter des Denunzierten, übt im schwarzen Anzug (und mit etwas zu langem Haupthaar) die Stehposen des geborenen Populisten: ein Abschmecken aller derjenigen Phrasen, aus deren Zusammenklang hierzulande, vor 1918 und mindestens so häufig auch danach, "Politik" entsteht.

Giesings im allerbesten Sinne "werktreuer" Bernhardi-Inszenierung eignet etwas Untröstliches. Äußerlich kühl, klar und jederzeit nachvollziehbar analytisch, reißt sie doch mit lapidarer Geste den Schleier weg vor dem Abgrund des Judenhasses.

Sie macht aus "Assimilierten" (Marcus Kiepe als Dr. Schreimann) Täter und entlarvt Wohlmeinende als Schwätzer (Udo Samel). Sie zeigt die Metamorphose von Medizinern in Todesengel (Oliver Masucci als Dr. Filitz). Der Kontrast könnte schärfer nicht sein: Wiener Akademiker unterhalten sich behaglich in Fauteuils, und derweil ist die Welt aus den Fugen. Der Boden kippt nach vorne weg; die Jagdzeit ist eröffnet.

Begeisterte Zustimmung des Publikums. (Ronald Pohl/DER STANDARD, Printausgabe, 18. 4. 2011)