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Gelächter als Überlebensmittel in unbehaglichen Zeiten: Autor Péter Esterházy. Foto: APA/Ballesteros

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Der weltbekannte Autor im Gespräch mit Ronald Pohl über Ungeist und Sprache.

STANDARD: Im ungarischen Parlament gelangt demnächst ein Verfassungsentwurf zur Abstimmung, dessen Präambel eine Festschreibung des nationalen Wesenskerns enthält. Bedeutet diese Verfassungsänderung tatsächlich eine Umwälzung für Ihr Land?

Esterházy: Man hört und sieht diese Sachen und versucht dann, für sich Folgerungen zu ziehen, was für uns Ungarn nicht sehr leicht ist, weil wir zurzeit in einer Atmosphäre leben, in der wir kein Vertrauen haben. Niemand schenkt irgendjemandem Vertrauen. Und wenn man kein Vertrauen hat, begrenzt man sich natürlich auch selbst. Diese Präambel, ich meine das in erster Linie stilistisch, ist einfach lächerlich! Es ist eine aufgepumpte, leere ...

STANDARD: Berühren wir mit ihr das Feld der Gebrauchspoesie?

Esterházy: Ich würde in keiner Zeitung publizieren wollen, in der auch dieser Text publiziert ist. Aber diese ganzen Selbstdefinitionen, "Was ist ein Ungar?", die haben natürlich Gründe. Jeder Staat, der mit seiner Selbstdefinition Probleme hat, versucht ihr nachzugehen. Aber was einen Ungarn ausmacht, ist eine urungarische Frage. Ich habe immer behauptet, sie hätte in England oder in Frankreich keinen Sinn.

STANDARD: Die Frage an sich wäre legitim?

Esterházy: Wenn etwas ein Problem ist, dann ist das ein Problem. Das hat wieder eine sprachliche Ebene. Wir befinden uns in einem Post-Political-Correctness-Status, aber Ungarn, und mit ihm alle ost- und mitteleuropäischen Staaten, verharrt in einem prä-PC-sprachlichen Status. Manche Sätze dieses Verfassungsentwurfes sind tatsächlich grob, aber vielleicht nicht so grob, wie es wirkt. Niemand versteht bei uns, weshalb es das Hin und Her mit den Sinti und Roma gibt, weshalb wir nicht "Zigeuner" sagen, wenn die einerseits Zigeuner sind, andererseits sie selbst sich Zigeuner nennen. Oder was ist das Problem mit den Negern? "Ich sehe, dass es ein Neger ist, du siehst, dass es ein Neger ist, ein ehrlicher Ungar sagt: ein Neger." Gesellschaftlich wurde nicht darüber nachgedacht, warum die Political Correctness gekommen ist.

STANDARD: Welche Auswirkungen zeitigt die Selbstbegrenzung?

Esterházy: Sie bildet das sprachliche Umfeld, in dem ein Text wie die Präambel entsteht. Die ungarischen Ohren sind für manche Sätze unempfindlich, wir haben das nicht gelernt, das mag ein Fehler sein, aber es ist so. Die Präambel übrigens ist meiner Ansicht nach nicht zu verteidigen - und sie ist ungenau. In ihr werden die Begriffe Nation und Staat durcheinandergeworfen. Es findet eine Gesichtspunktsänderung statt: Die Hauptrechte zielen nicht auf eine Stärkung des Subjekts, sondern das Subjekt soll auch noch etwas leisten. Ich kann nicht beurteilen, ob die Macher wissen, wie radikal unzeitgemäß das ist.

STANDARD: Wie klingt die von den Konservativen verwendete Sprache in Ihren Ohren?

Esterházy: Was ich höre, ist nicht altmodisch, sondern alt, staubig. Das hat mit Tradition nichts zu tun, so ist das nur eine Farce. In dieser Farce bekomme ich vielleicht meine Schlösser zurück! Ich verstehe das nicht, diese Menschen sind 40, 50 Jahre alt, und mein Ururgroßvater würde nicht so sprechen! "Wir stehen allein im Gewitter Europas, und Europa ist undankbar." Bedient werden die üblichen Opfermythen. Wir können doch nicht, wenn wir die EU-Präsidentschaft innehaben, vom Diktat von Brüssel sprechen! Brüssel sind wir alle.

STANDARD: Die Ursache?

Esterházy: Alles, was hier in zwanzig Jahren passiert ist, ist sehr schnell, zu schnell passiert. Die Geschichte ist zu schnell. Wir genießen nicht die Demokratie. Wir haben für die Freiheit nicht gekämpft, sie ist uns einfach in den Schoß gefallen. Und dann, ein paar Jahre später, waren wir schon in der EU und haben Kompetenzen abgegeben. Das ist nicht so einfach. Wie im Westen über die politischen Veränderungen in Ungarn geschrieben wird, ist manchmal haarsträubend. Wenn man "Führerstaat" sagt, beschreibt das nicht die Sache. Es ist ein sehr autoritäres Gebilde, das sich hier ausbildet, aber diese Metaphern sind einfach falsch. Stilistisch gesehen kommt vieles aus der Kàdar-Zeit, auch die Selbstzensur, die ist zum Kotzen. Durch das neue, verschärfte Mediengesetz ist bis heute nichts geschehen. Es besteht nur die Möglichkeit, dass eingegriffen werden könnte. Es kann doch nicht sein, dass nach zwanzig Jahren Freiheit ein Regierungsangestellter erklärt, wer anständig schreibt, muss keine Angst haben! Jemand aus dem Ministerium soll mich nicht beruhigen! Ich bin doch ruhig!, behaupte ich sehr unruhig.

STANDARD: Hat Ungarn nicht schon genug Erfahrungen mit Zensur und Selbstzensur gemacht?

Esterházy: Bei der Selbstzensur gibt es nur Verlierer. Selbstzensur gleicht allem Anschein nach einem edlen Ritter, mit dem man fechten kann, und wenn man begabt ist und anständig, dann gewinnt man. Aber das ist nicht so. Selbstzensur ist wie geschmolzener Schnee, der in deinen Körper einsickert, da im Genick. 1956, das war wie ein nasser Hund, der sich schüttelt: Er schüttelte das System von sich ab - später aber wusste man nicht mehr, wo endet der Hund und wo beginnt das Wasser. Manche Erscheinungen erinnern eindeutig an 1949, auch diese Ausdrücke wie Staatsfeinde oder Verräter, wortwörtlich: "innere und äußere Feinde", die kenne man zur Genüge. Die erwähnten Erscheinungen bilden ein System aus, dessen Geist ich für schädlich halte. Statt Gegnern Feinde, statt Gerechtigkeit Rache. Wie jemand, der noch vor kurzem ein Unterstützer der Regierung Orbán war, formulierte: unter demokratischen Umständen immer weniger Freiheit! Der Geist der neuen Verfassung weist in diese Richtung. Ich komme zu einem historischen Satz, der schon oft gesagt worden ist: Dass so etwas geschieht, hätte ich nicht geglaubt. Natürlich: Wer so einen Satz sagt, ist selber lächerlich. (Ronald Pohl, DER STANDARD - Printausgabe, 9./10. April 2011)