Heute ist alles drei Klicks weit, jede Nacktheit, jede Perversion: AMATEUR ANAL ASIAN. Und so ewig weiter bis zu SM, wo Sades Exzesse zur Latexwerbung banalisiert werden.

Foto: Internet

Heiß war es, gewiss, schwitzig und auch ein wenig feucht, denn wir wanderten gerade mit der Schulklasse durch ein Bachbett, das sich als Spalte durch die Landschaft zog, als Spalte, in der wir versanken, umsprüht von Wasserdunst und spermatischen Dunstwolken, und wir fragten uns, wie es wohl so aussieht, zwischen den Beinen der Mädchen. Und einer unter uns, verschämt, meinte, es habe dort einen schwarzen Fleck: "Wie? ", wollten wir wissen, "einfach nur schwarz, mit nichts drumherum und innen auch mit - Nichts?"

Wir konnten es nicht entscheiden, denn das Mädchen, das wir fragten - ihr Name las sich von hinten wie von vorn gleich: A N N A - ohrfeigte mich. Und da standen wir, gerade noch vielklug über den Witz "von hinten wie von vorn" lachend, aber gar nicht wissend, wie es "da vorn wohl" ausschauen mochte. Wir hatten nur mal von ein paar Sex-Heftli geklaut, wo zwischen den Beinen eben nur die vom Zensurpinsel hingetupften Flecken zu sehen waren, schwarze Flecken, die sich, je länger wir sie anstierten, tief und tiefer in unser Hirn brannten.

Wenn man zu lang ins Licht der Sonne schaut und dann die Augen schließt, dann tanzen sie vor dem inneren Auge: Rote und schwarze Flecken, in unsere Retina gebrannt, in unser Bewusstsein gestanzt.

Die Sonne verkörpert seit je das Schöne, Gute und Wahre. Doch wenn man zu lang ins platonische Ideal-Ich blickt, dann verkehrt sich die Sonne in einen schwarzen Fleck, dann erscheint hinter der Oberfläche der Aufklärung der dunkle Abgrund des Gegen-Ichs, des Verdrängten. Diesen schwarzen Fleck könnte man auch "anus solaire" nennen. Sonnenanus.

Ist nicht unser Ich für uns selbst ein schwarzer Fleck? Jener schwarze Kern, den Arthur Rimbaud mit Drogen, die Surrealisten mit der "écriture automatique", Sigmund Freud mit der Psychoanalyse und Georges Bataille mit seinen Fantasien rund um den Sonnenanus erforschen wollte?

Und ist umgekehrt die kommerzielle Pornografie, sind die XXX-Sites im Netz nicht gerade das, was uns von der erotischen Ekstase bewahrt? Vor jenem Selbstverlust, der uns dem Konsum entreißen würde und dem Funktionieren in der Gesellschaft?

Jung waren wir, klein und träumten von dem, was die Zensur hinter den schwarzen Tupfern aus grobhaarigen Pinseln verbarg. In unseren Fantasien wollte wir selbst zu einem solchen Pinsel werden und Mädchen betupfen, ihnen unter den Wollpullover greifen, denn damals versteckten sie ihre Brüste hinter Widerborstigkeit und legten auf Schulreisen Alice Schwarzer auf den Nachttisch, Schrift gewordener Stachelpullover, während in unseren überhitzen Hirnen alles aquarellartig ineinanderfloss: der Sex, die Sprache und das schwarze Ejakulat der Tinte.

Rimbaud wollten wir übersetzen, aber der war schon übersetzt. Da riet uns ein Buchhändler zu Sade. Das Sehnen nach Sex wurde ganz Sprachkörper, eine Kuppelei von Worten: Die endlosen Orgien bei Sade versuchen einen vollendeten Satz zu bilden, einen Satz ohne leere grammatikalische Position, ohne Loch: So wie die Nonnen in Bologna, mit Dildos bestückt, einen Reigen bilden, 50 Frauen, die sich gegenseitig "auffädeln" und dabei, wie Sade bemerkt, eine neue Sexstellung erfanden: "den Rosenkranz."

"35. Er geht in einem hergerichteten Korb in Stellung, eingeschmiert mit dem Schleim einer Stute. Ein echtes Pferd, eigens abgerichtet, arschfickt ihn mittlerzeit, wobei er im Korb eine weisse Hündin vögelt."

Dies schrieb Sade 1785 im Kerker der Bastille. Während 120 Tagen ziehen sich vier Ausschweiflinge mit ihren Opfern auf ein eingeschneites Schloss zurück, wo vier Kupplerinnen insgesamt 600 Perversionen erzählen - angefangen von harmlosen Fingerspielereien in Klosterzimmern, bei denen die Priester kleine Buben missbrauchen, bis zu gräuelreichsten Schlachtszenen in Kellerkerkern.

Nach einer romanhaften Einführung in barocker Satzfülle, verengt sich das Werk zum Fragment mit knappen Listen der Foltern - Kürzestorgien, die man runterscrollen kann wie XXX-Sites und bei denen man schnell jene sexuelle Spielart findet, nach der man süchtig ist. Und doch sind jene Bücher, die man, wie Jean-Jacques Rousseau sagte, "mit einer Hand liest", durchaus nicht mit jenen Sites zu vergleichen, die man sozusagen "mit einer Hand runterscrollt".

Viel später nämlich, ans Netz angeschlossen, da suchte ich unter dem Stichwort SADE und MARQUIS mit einem Klick ein paar Informationen und landete: im Pornoland. Nur Fotos gab es damals, die man runterladen konnte. Ganz langsam scrollte sich das Bild herunter, oben beginnend beim Kopf, die Grimasse gespielter Lust, während unten noch alles schwarz war. Da war er wieder: der schwarze Fleck.

Aus diesem Dunkel tauchten dann langsam Achselhöhlen auf, lockend geöffnet, dann der Ansatz der Brüste - waren sie groß-schwebend oder klein-stichelnd? Das zeigte sich Sekunden später, und schon bohrte sich die Spitze ins Auge, kurzer Kitzel der Wartezeit, bis sich das Unten enthüllte, jenes Rätsel, das immer schwarz umtupft gewesen war.

Das Tempo beim Herunterladen, die wenigen Bilder mit wenigen "Höhepunkten" (spreizbeinige Frauen auf gelben Medizinbällen hüpfend), all das ist heute so lächerlich wie es noch früher die schwarzen Tupfer der Zensur waren. Heute ist alles drei Klicks weit, jede Nacktheit, jede Perversion: AMATEUR ANAL ASIAN Und so ewig weiter bis zu SM, wo Sades Exzesse zur Latexwerbung banalisiert werden. Und stets bin ich der Herr im Harem.

Ende des Erotischen

Das Intime, die innere Erfahrung, wird in der Pornografie abgetötet - nur selten scheint in den Darstellern etwas aufzubrechen, nur selten "verrutscht" etwas und entblößt statt Nacktheit so etwas wie Verletzlichkeit.

Ob-Szön ist heute vielleicht gerade nicht mehr das Sexuelle, sondern: das Stottern, das Unsichere, das Zögern. Das wird von der "Szene", von der Bühne verbannt, nicht mehr der nackte Körper. Stattdessen: genormte Überschreitung: Die Filme auf den XXX-Sites sind oft 25 Minuten lang. So lang können es diese Männer treiben - hat nicht André Breton bei den Sexgesprächen der Surrealisten 1928 gesagt, bei ihm dauere der Akt nur gerade 20 Sekunden? Und war Breton nicht einer der größten Liebenden des letzten Jahrhunderts?

Statt Liebe nun also: 25 Minuten. Das schwarze Loch muss verrammelt werden. Gerade die Pornografie will uns nicht eintauchen lassen in die Abgründe des Ichs, sondern uns ablenken. Das Loch, das Unbekannte - und damit halt immer noch meist die Frau - muss zugerammelt werden.

Gewalt schweigt. Bis heute. Gewalt wird gerechtfertigt im Namen von Idealen. Aber sie selbst, sie schweigt. Bei Sade spricht sie ungeschminkt. Insofern sprechen Sades Henker, laut Bataille, die Sprache des Opfers. Sexualität ist Macht. Gerade diese Reflexion über die Machtstruktur der Triebe findet im Netz nicht statt. Da wird den Frauen (selten auch Männern) vom Phallus der Mund gestopft, bis Geifer und Speichel hervorspritzt. Da wird auch "Warporn" gezeigt, Seiten, in denen man mit echten Kämpfern in den Krieg mitzieht, waffenstarrend, durch Dunkelheit, erfüllt von Schreien und Angst. Aber dabei bleibt man immer Herr. Herr auch im eigenen Haus. Doch gerade das ist man ja nicht, wie Freud zeigte.

"Es ist nicht das Objekt der Begierde, das uns erregt, sondern die Idee des Bösen." Der wahre Skandal dieses Satzes von Sade zündet nur, wenn es dem Werk gelingt, den Leser auf sich selbst zurückzuwerfen. Sonst würde er immer nur mit dem Finger auf Sade zeigen und sagen: Dort, dort ist das Böse. Doch einer eigentümlichen Dynamik von Sades Schrift ist es zu verdanken, dass man zuletzt gezwungen ist zu sagen: Da, das Böse bin ich.

Dann wird Lesen eine innere Erfahrung: Man wird durch extreme Texte aus sich heraus und über sich hinaus gerissen. Ek-stasis, Heraus-Treten. Eine endlose Bewegung. Eine endlose Suche. Mitten hinein in den schwarzen Fleck des Ichs.

Nur so kann ich mir erklären, wie ich mit Michael Pfister Justine und Juliette vom Marquis de Sade übersetzte, 3000 Seiten, immer neu überarbeitet, verändert - bis sich zuletzt ein Turm von mindestens 39000 Seiten in unseren Zimmern auftürmte. (Stefan Zweifel, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 9./10. April 2011)