Facebook-Seite von Hamadi Kaloutcha alias Sofiène Ben Haj M'Hamed

Screenshot: red

Noch gibt es viele Probleme auf dem Weg zur Demokratie zu bewältigen, sagt Sofiène Ben Haj M'Hamed. Der tunesische Blogger, der federführend an der Revolution mitgewirkt hat, tagelang inhaftiert war und psychologisch gefoltert wurde, sprach mit Jan Marot bei einem Menschenrechtssymposium in Granada.

STANDARD: Wann haben Sie begonnen, als Online-Aktivist für eine politische Veränderung in Tunesien gegen das Regime von Ex-Präsident Zine el-Abidine Ben Ali einzutreten und hatten Sie bereits Kontakt zu Gruppen, oder waren sie am Anfang ganz alleine?

M'Hamed: Ich war alleine als ich anfing. Ich habe damit begonnen, als ich mein Politikwissenschaftsstudium abgeschlossen hatte. Ich dachte, es wäre ein guter Zeitpunkt, das was ich studiert habe, für mein Volk einzusetzen und ich hatte Lust, für einen demokratischen Wandel zu kommunizieren. Gleich zu Beginn war ich auf Facebook, das ich damals eben erst entdeckt hatte. Das war um die Zeit des Gaza-Krieges in Israel 2008.

STANDARD: Was sind die Vorteile von Facebook in diesem konkreten Fall der tunesischen "Jasmin"-Revolution gewesen?

M'Hamed: Anders als normale Blogseiten, die sich auf meist zwei Formate stützen und oft Text-basierend sind, was in dem Fall ein Blödsinn wäre. Sie sind nicht einfach zu handhaben, und mitunter sind sie auch die, die leicht von Regierungsseite attackiert und gehackt werden. Zudem setzen sie voraus, dass der URL weithin bekannt ist. Es fällt viel leichter, sich auf Facebook zu vernetzen. Funktionen, wie das Einbetten von Bildern und Videos, der Chat - all das war sehr praktisch. Und Facebook hatte einen großen Effekt, eben da sich die Gruppen der Cyberaktivisten im Gegensatz zur Berieselung durch tunesisches Staats-TV und Medien aller Art, die Ben Alis Propaganda verbreiteten, in Debatten viele Einzelne zu tieferer Reflexion mit Meinungen und Nachrichten bewogen hat. Alles ist sehr gut und einfach strukturiert. Hier konnte man wirklich seine Ideale verteidigen, für sie eintreten. Ich habe dann die weiteren Oppositionsgruppen auf Facebook recherchiert. Mir fiel auf, dass zwar alle gegen Ben Ali waren, und einig im Kampf gegen das Regime. Sie zeigten aber auch nur stets die negativen Seiten auf, die Korruption und Gier des Familienclans, die Verfolgung der Gegner, aber keiner wollte etwas machen, um den positiven Wandel herbeizuführen. Sie hatten auch keine Ideen, keine Alternativen, wie es gelänge.

STANDARD: Die Wikileaks-Dokumente zu Tunesien steigerten zusätzlich den Zorn gegen Ben Ali...

M'Hamed: Deren Übersetzungen habe ich auf Französisch und Arabisch mit erarbeitet, binnen kürzester Zeit schnellten die Zugriffe auf über 170.000. Es war ein Teil der Arbeit, ein Bewusstsein zu schaffen, auf das die Demokratie und ihre Grundsätze eingefordert werden. Wir leisteten sehr viel Überzeugungsarbeit, um die geläufigen Argumente gegen ein Mehr an Demokratie, die sich verfestigt hatten, zu entkräften. Dann habe ich weitere Gruppen ins Leben gerufen und den Kontakt zu anderen forciert. Texte, Meldungen, Karikaturen wurden darauf zur Verfügung gestellt, und dann geschah es fast plötzlich. Es zeigte sich eine unglaubliche Solidarität unter der jungen Generation. Ein guter Kollege, ein Blogger, der hat mich weiter in meinem Weg bestärkt. Ich kannte ihn nur aus dem Virtuellen, erst vorige Woche habe ich ihn zum ersten Mal persönlich getroffen.

STANDARD: Auch Facebook selbst schränkt mehr und mehr Funktionen ein...

M'Hamed: Es machen sich Veränderungen bemerkbar, wesentliche Werkzeuge um an viele Personen zu gelangen, die werden für die gewöhnlichen Nutzer eingeschränkt, ebenso die Zahl der "Freunde", die man haben kann, und gleichzeitig boomen die Fanpages. Es scheint, als gerate der Austausch von Information, Ideen und Idealen, die am Anfang dominierten, mehr und mehr für Marketing und Werbung ins Hintertreffen.

STANDARD: Wie setzten Sie sich gegen die staatliche Zensur zur Wehr?

M'Hamed: Dem galt besonderes Augenmerk unsererseits. Die Zensur zu unterwandern, denn selbst Facebook wurde temporär gesperrt. Zuerst habe ich eine Petition gestartet, doch wie Sie wissen, haben Dinge wie Unterschriftenaktionen keinen Sinn in Diktaturen. Erst der Boykottaufruf, dem Internetservice-Provider (Anm. ISP) zu kündigen, hat Wirkung gezeitigt. Fast 14.000 kündigten den Schritt gegenüber ihrem ISP an. Und selbst Zeitungen griffen dann erstmals das Thema der Zensur auf. Die richtete sich auch gegen Videoportale, wie Dailymotion und Youtube.

STANDARD: Abseits Facebook, welche Webtechnologie war für den Erfolg der Jasmin-Revolution die Zweitwichtigste?

M'Hamed: Zwei weitere Systeme, die waren gleichermaßen wesentlich für das Gelingen. Einerseits war Twitter enorm wichtig, um die Demonstranten gegen Polizeiabsperrungen zu koordinieren, eben da es auch mobil und quasi in Echtzeit funktioniert. Skype war aufgrund der Verschlüsselung für Gespräche zur Organisation und Planung untereinander unverzichtbar. Auch für die Kommunikation nach Außen, da Skype-Gespräche nicht mitgeschnitten werden konnten von der Staatspolizei.

STANDARD: Wie haben Sie sich gegen die Verfolgung durch das Regime geschützt, wenn Sie online gingen?

M'Hamed: Ich habe mein Signal über mehrere Proxy-Server hintereinander geleitet, was eine Ortung meines Standortes (Anm. über sg. Back-Tracing der IP-Adresse) seitens der Behörden quasi verunmöglichte. Zudem bin ich stets über andere Wifi-Netze an unterschiedlichsten Orten eingestiegen, das waren viele offene aber auch private, wo man eben deren Verschlüsselung umgeht. Meine Vorsicht war es auch, die hat es mir erlaubt hatte, seit 2008 fast bis zum Sturz Ben Alis unerkannt zu bleiben.

STANDARD: Aber es kam der Tag, an dem Sie von der geheimen Staatspolizei abgeholt wurden...

M'Hamed: Ich war ein einziges Mal unvorsichtig. Das war, als ein Freund von mir in Paris, ein Menschenrechtsaktivist, meinte ein Journalist wolle mich telefonisch interviewen. Ich sagte erst, kein Problem, machen wir es über Skype, ich melde mich, wenn ich eine sichere, anonyme Verbindung habe. Aber der Kollege hatte es natürlich sehr eilig, und ich gab ihm meine Handynummer preis, per E-Mail. Da wusste die Geheimpolizei meine Daten, wo ich wohne, wer ich denn bin, der hinter dem meinigen Profil, Hamid Kaloutcha, steht. Lange haben sie mich gesucht, sagten sie mir, als sie mich einige wenige Tage später abholten. Es läutete um fünf oder sechs Uhr morgens an der Türe. Ich wunderte mich, da ich mir nie etwas zu schulden kommen habe lassen. Aber meine Vorahnung bestätigte sich. Es waren Männer von der Geheimpolizei, nicht von der normalen Polizei, die führten mich ins Innenministerium ab. Zum Glück fanden sie meinen Laptop nicht, den versteckte ich rasch unter dem Bett. Sie nahmen stattdessen den meiner Frau mit.

STANDARD: Dort hat man Sie drei Tage festgehalten, wie ging man mit Ihnen um?

M'Hamed: Es war weniger körperliche Gewalt, als psychologische Tricks, die bei den Verhören zum Einsatz kamen. Ich wurde fast durchgehend befragt, geschlafen habe ich so gut wie gar nicht. Ich bekam ein wenig zu essen und habe ledglich zwischen den Befragungen auf Matten etwas liegen können. Ich habe meine Meinung verteidigt. Ein Video, das ich hochgeladen habe, da wollten sie noch wissen, wer meine Quelle ist. Aber ich sagte nichts. Da das Regime seinem Ende nahe war, und ich krank wurde, ließ man mich zum Arzt gehen und ließ mich frei.

STANDARD: Einer Ihrer Bloggerkollegen Slim Amamou, der auf Twitter als Slim404 bekannt ist, ist Staatssekretär für Sport und Jugend aktuell...

M'Hamed: Ja, ich habe ihn im Innenministerium kennen gelernt, er war mein Zellenkollege. Nur ihn haben sie länger verhört und er war länger eingesperrt. Er kam erst im Jänner just nach der Flucht von Ben Ali frei. Es gab auch Kampagnen, die seine Freilassung forderten, und auf Twitter ist er nach wie vor sehr aktiv. Er selbst steht der Anonymous-Bewegung nahe (Anm. seine Piratenpartei-Mitgliedschaft hat er derzeit auf Eis gelegt).

STANDARD: Welche Bedeutung hatte Softwarepiraterie für Tunesiens Wandel?

M'Hamed: Die Softwarepiraterie war ein essenzieller Bestandteil und notwenig für das Gelingen der Revolution. Viele Programme waren schlichtweg zu ihrem Preis für die tunesischen Aktivisten nicht leistbar. Natürlich sind wir Verfechter von freier Open-Source-Software, aber in diesem Fall haben wir so genannte "Raubkopien" verwendet, es sei uns verziehen, doch wir haben sie für einen guten und noblen Zweck eingesetzt, will ich meinen.

STANDARD: Eines Ihrer Videos wurde auf Al Jazeera ausgestrahlt, doch davon waren Sie wenig angetan?

M'Hamed: Das war ein Clip von der Besetzung der Universitätsmoschee von Tunis. Sie haben ohne mein Einverständnis nicht nur mein Video gezeigt, sondern auch den Inhalt verdreht. Es ist keine generelle Kritik am Sender, aber die Grundsätze der journalistischen Arbeit wurden dabei definitiv verletzt. Ich habe einen Kollegen und Mitarbeiters des Senders davon erzählt, er meinte es sei ganz normal, und er hat sich entschuldigt.

STANDARD: Haben Sie Kontakt zur so genannten Gruppe des "20. Februar" in Marokko, benannt nach dem Tag, wo erste Proteste friedlich für mehr Demokratie demonstrierten?

M'Hamed: Prompt nach meiner Freilassung stieg auch meine internationale Vernetzung, eben vor allem mit Ägyptern und Libyern, ich war auch durch die Kampagne zur Freilassung der Blogger bekannt geworden, so habe ich Kontakt zu leitende Aktivisten der Revolutionen dort geknüpft. Mit Marokko habe ich auch zu tun, und wir haben viel über die Jugendproteste des "20. Februar' diskutiert. Aber es ist eine andere Sache, die religiöser weit tiefer vernetzt ist. Es ist ein Königreich, und König Mohammed VI. Wurzeln gehen zurück auf den Propheten. Er hat nicht nur dadurch seine Legitimation, aber der Druck auf ihn, der scheint zu steigen, selbst wenn er Reformen versprochen hatte, wird weiter demonstriert.

STANDARD: Haben Sie Angst, dass eine konterrevolutionäre Bewegung, traditionalistische Kräfte, den begonnen Wandel der Jasmin-Revolution und den Übergang zur Demokratie torpedieren könnte?

M'Hamed: Es gibt Tendenzen. Die gibt es eindeutig. Jene Gruppen machen alles, um auf Stimmenfang zu gehen. Sie werben vor allem auf der Straße. Es sind auch jene Kreise, die auch auf schnellst mögliche Wahlen drängen, um so noch ein besseres Ergebnis zu erreichen. Aber es ist nicht die Mehrheit. Ich kann das zwar nicht verstehen, aber sie ist da, die politische Kraft die eine Gegenrevolution sucht. Zu allererst muss die Justiz unabhängig werden, das hat oberste Priorität, und ihre Struktur muss neu geregelt werden. Und es muss faire Verfahren gegen das alte Regime geben. Das ist die Basis. Auch die Gewerkschaften spielen eine große Rolle, die sind untereinander zerstritten, und sie spielen ihre Streits auf Kosten der Zukunft der Arbeiter aus. Fabriken werden geschlossen, mehr und mehr Leute haben keine Arbeit. So versuchen Kreise der Gewerkschaften aktuell die Meinungen der Menschen zu manipulieren.

STANDARD: Was sind Ihre Hoffnungen für die Nahe Zukunft?

M'Hamed: Sie meinen die nächsten zwei Jahre? Ich hoffe, dass es keine Gegenrevolution geben wird. Die Tunesier können und sollen stolz sein, auf das was sie geleistet haben. Doch jetzt heißt es an der Zukunft zu arbeiten. Alles kann nicht der Staat für die Tunesier regeln, es ist ein jeder gefordert am neuen Tunesien seinen Beitrag zu leisten. Ich bleibe optimistisch, ich bin sowieso Optimist. Und ich hoffe, dass die Wahlen im Juli ein deutliches Zeichen für den demokratischen Kurs offenbaren werden. Dabei sind die islamistischen Parteien nicht zu unterschätzen. Sie sind in gewisser Weise wie Chamäleons, die sich immer an die Umgebung anpassen, um möglichst viel politischen Profit daraus zu schlagen.

STANDARD: Wenn jetzt Ende Juli gewählt wird, wie steht es um die Möglichkeiten politischer Meinungsbildung der Bürger, jahrzehntelang war die Presse und der Rundfunk Organe im Dienst des Regimes?

M'Hamed: Die freie Presse, wie es nun heißt, und die Information, sie ist auch frei. Doch es sind dieselben alten Medien der Diktatur, die sie verbreiten. Es gibt keine neuen Tagespressetitel etwa, und auch die Menschen, die Nachrichten unter Ben Ali verbreiteten, sind bis heute diejenigen, die heute die Kontrolle über sie haben. Diese Medien waren es, die dem Regime seine Schminke verpasst hatten, auch nach Außen, Kanäle, aus denen nur eine Partei sprach, was jegliche politische Diskussionen von Vorneherein verunmöglichte, schlichtweg auch aus Mangel an Information und Zugang zu dieser. Dank dem Internet werden nun nach Dekaden wieder politische Themen debattiert.

STANDARD: Lange Zeit war in Nordafrika ein Internetzugang unerschwinglich oder technisch nicht möglich, doch seit 2008 wuchsen diese Zahlen mäßig fast exponential. Hätte die Revolution früher statt gefunden, wenn mehr Tunesier früher Zugang zum Web gehabt hätten?

M'Hamed: Der Zugang zum Internet, der vereinfachte in Tunesien nicht den Zugriff und das Angebot von Information. Mit dem Anschluss an das Web 1.0, oder mit Familiencomputer-Kampagnen auf Kredit, die Ben Ali promovierte, entstanden auch Webseiten für Nachrichten, auf Linie des Regimes, aus dem Exil wurden diese geblockt oder vorgefiltert. Wer nicht auf Linie war, dessen Web-Auftritt wurde abgedreht. Es war kein partizipatives Internet. Zensur und Repression dominierten. Cyberaktivisten wurden festgenommen, auch um die Wahlen herrschte 2009 besonders starke Repression. Doch bereits Jahre davor, war Zouhair Yahyaoui, einer der ersten Cyberdissidenten zwei Jahre inhaftiert worden. Er verstarb nach seiner Freilassung 2005 an einem Herzinfarkt als 37-jähriger wohl aufgrund der Misshandlungen im Gefängnis und wurde zum Symbol des Widerstands.

STANDARD: Wie sehen Sie die politische Zukunft Tunesiens?

M'Hamed: Jetzt gibt es erstmal Parlamentswahlen, dann soll eine Kommission eingesetzt werden, die regiert und eine Verfassung erarbeitet und es muss noch geklärt werden, ob wir einen Präsidenten wollen, und wenn, wie weit reichende Befugnisse er haben darf. Ich bin der Meinung, dass das Volk befragt werden soll, ein Referendum soll darüber entscheiden, welche Form parlamentarischer oder präsidentieller Demokratie die Tunesier haben sollen. Es gibt jede Menge Schwierigkeiten zu bewältigen, selbst die Übergangsregierung ist eigentlich nicht legal.

STANDARD: Wie beurteilen Sie den doch abrupten Meinungswandel manch europäischer Regierungschefs, die Nordafrikas Diktatoren vor wenigen Monaten noch hofierten?

M'Hamed: Europa hat reagiert, das war neu, und hat dabei deutliche, positive Signale gesetzt. Früher, wenn ich Zeit des Studiums in Brüssel, etwa bei Konferenzen war, sei es im Rahmen des Studiums oder aus persönlichem Interesse, und ich mich dabei mit Abgeordneten über Tunesien unterhielt, hieß es immer: "Aber die Frauen dort, die sind frei', und ‚Ben Ali hält die Islamisten im Zaum". Viele Europäer konnten darüber hinaus oft die Situation nicht begreifen. Viele glaubten auch, dass Tunesien wegen seiner geografischen Nähe zu Europa auch das europäischste Land Nordafrikas wäre. Das ist nicht so. Man kann auch nicht sagen, wir wären den Italienern ähnlich, wir haben mehr mit den Bürgern Katars gemein. Wir sind nicht europäisch, aber doch haben wir eine gemeinsame Identität, die sich daraus ergibt, dass wir Bewohner des Mittelmeerraumes sind. Anders als Libyen, hat Tunesien auch kein Erdöl. Doch jetzt gibt es die Chance auch für Europa, das früher etwa Ben Ali gestützt hat, der sein Volk unterdrückte, eben diesem Volk zu helfen. Doch hört man etwa von Nicolas Sarkozy, ist ohnehin ein besonderer Fall, nicht nur weil er den Hilfsantrag Italiens an die EU-Kommission, weil man dort keine Tunesier mehr aufnehmen könne, ablehnte, da man bereits genug für Flüchtlinge ausgebe. Anders war es mit Europas Zivilgesellschaft, die war zu Beginn der Revolutionen bereits weiter als die Politik. (jam/Online-Langfassung/DER STANDARD, Printausgabe, 9. April 2011)

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