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Wörter, Orte und die Berührungspunkte der Literatur mit der Realität: Dorothee Elmiger.

Foto: Reuters/HERWIG PRAMMER

Als ich an meinem Tisch saß und an Rauris dachte, als ich an das Wort Rauris dachte, das einen Ort beschrieb, den ich nie betreten hatte, als ich an meinem Tisch saß und das Wort Rauris auf ein Stück Papier vor mir schrieb, dachte ich, dass Wörter ja bereits Orte seien, Landschaften und Gebiete, Gipfel und Steppe, einmal schlicht, dann wild, licht oder vergessen, urwaldig oder karg und in schwindelerregender Höhe gelegen, im Dunkeln von Gespenstern bewohnt, von Erinnerungen und von Ahnungen.

Das Wort Rauris verwies mich in eine ungefähre Richtung. Es schien nicht ganz der alltäglichen Welt entlehnt, es musste fernab gelegen sein, musste ein Geheimnis bergen. Rauris könnte sein, dachte ich: ein Ruf der Seefahrer beim Heben der Anker; ein Steinzeitalter; ein kleines Tier, nicht viel größer als ein Wiesel, scheu und selten, frisst Nüsse und ist klug. (...) Könnte sein: (...) eine fünfte Himmelsrichtung oder der Name eines Windes: Bise, Nordwind, Föhn und Rauris.

Als ich aber so da saß und nachdachte - ich muss gestehen, dass ich nicht nur an Rauris dachte, ich trug den Kopf voller Wörter und Orte, es waren die Namen von anderen Städten und Tälern, von Ländern, Pässen und Flüssen, die sich neben und um das Wort Rauris reihten, schwindlig schnell sich drehten, sie hießen Bengasi und Tunis, Lampedusa, Kairo und Tripolis, ich stieß mit dem Zeigefinger den Globus an, da tauchten auch die Namen japanischer Fischerstädte auf. Es waren tatsächliche Orte, und alles schien in diesem Moment dort zu geschehen, so dass ich hin und wieder dachte, es sei doch jetzt unpassend, nur an meinem Tisch zu sitzen und über Rauris nachzudenken (...).

Es ist eine Frage, die viele gestellt haben und immer wieder stellen: über die Wörter und ihre Orte, über das Vermögen der Literatur und über ihre Berührungspunkte mit jenen handfesten Geschehnissen in der Welt, und ich kann sie nicht beantworten oder vielleicht nur auf diese Weise:

Als ich am Tisch saß und nachdachte, entdeckte ich eine kleine Fotografie, die meine Rauriser Ahnung in eine bestimmtere Richtung lenkte: Ein Haus wuchs darauf in den Himmel (...). Im Schnee gingen Gestalten, Männer und Frauen - bestimmt trugen sie Bücher in den Taschen, dachte ich - sie gingen auf das Haus zu, gerade kamen sie an, bogen ein auf den schmalen Pfad, traten unter die Tür. Ihre Blicke trafen sich, und auch wenn sie sich bisher unbekannt waren, erkannten sie sich doch, denn sie waren hierhergekommen aus demselben Grund, mit den Büchern in den Taschen, und es schien mir ein guter Grund zu sein, ebenso ein handfester, diese Männer und Frauen, vermutete ich, wandten sich nicht ab von der Welt, sondern ihr zu. Als ich am Tisch saß, über das Bild gebeugt, schien mir dieses Haus ein guter Ort für Treffen zu sein, ja, es schien mir plötzlich der Inbegriff eines Treffpunkts zu sein, ich wollte auf der Stelle aufbrechen zu diesem Ort, (...).

In der Wolke über dem First vermutete ich übrigens einen Geist, der Jahr für Jahr wiederkehrte. Dieses Haus für alle Treffen könnte überall sein, dachte ich, aber vielleicht ist es genau hier. Die Aussicht aus den oberen Fenstern reicht vielleicht weit übers Mittelmeer (...): Dort schwimmt ein Boot mit vielen Passagieren: Rauris!, rufen sie und setzen die Segel. (Dorothee Elmiger, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 9./10. April 2011)