Es ist sicher kein Fehler, die westliche Kritik an China mit Vorsicht zu genießen: Über Menschenrechte im Ausland ist umso leichter reden, wenn man nicht über die Rechte jener sprechen muss, die im eigenen Land von der Hand in den Mund leben; oder gleich auf der Straße. Wanderarbeiter gibt es in Deutschland auch, bloß dass sie hier eine BahnCard haben.

Der Aufsteiger-Komplex

Trotzdem darf auch uns Gutwilligen, die wir geduldig die Feuilletonbeiträge zum wesentlich anderen Staats- und Freiheitsverständnis der Chinesen gelesen haben und die wir wissen, wie tief Komplexe und Traumata sitzen können und wie sehr sie, auch nach Jahrzehnten noch, Reflexe der Abwehr auszulösen imstande sind, langsam die Lust verlassen, uns mit dem ewigen China-Thema weiter abzugeben; es führt ja zu nichts. China ist ein Schwellenland, das sich aus guten historischen Gründen jede westliche Einmischung in seinen Kram verbittet, anders als der Westen kollektivistisch denkt und sich auf dem Weg an die Spitze der Weltwirtschaft nicht von Dissidenten stören lassen will - geschenkt. Denn trotzdem darf man auch als Dialektiker resignieren, wenn sich in China - auch nicht anders als in Libyen - die wohl trübste anthropologische Konstante zeigt: dass Eliten immer und ausnahmslos alles tun, um da zu bleiben, wo sie ihrer Meinung nach hingehören; gerade die, deren Legitimität angezweifelt wird.

Chinas KP hat, um diese offene Tür gleich einzurennen, natürlich längst nichts mehr mit Kommunismus zu tun; wenn sie das je hatte. Sie ist in erster Linie eine antikoloniale Freiheits- und Aufholbewegung gewesen, die aus dem abhängigen, ausgebeuteten, rückständigen China eine Industrienation gemacht hat, unter den bekannten, monströsen Verlusten. China ist ein Aufsteiger, und Aufsteiger reagieren auf eine Infragestellung von Leistung, Besitz und Status empfindlicher als jene, die schon länger im Club sind oder ihn sogar gegründet haben. China hat einen Aufsteiger-Komplex, und der handelt immer auch von Minderwertigkeit: Während kaum einer die grundsätzliche Legitimität des westlichen Staatsmodells in Frage stellt (trotz Westerwelle, Geldherrschaft und Massenarbeitslosigkeit), kann China in zwanzig Jahren die Welt in wirtschaftlicher Hinsicht noch so deklassiert haben: es bleibt der Makel des nach westlichem Verständnis illegitimen, „kommunistischen" Staates. Er sitzt im Club, aber wie ein Windsor-Knoten geht, das weiß er nicht.

Wenn schon Kapitalismus, dann doch bitte richtig

Derlei macht aggressiv und selbstgerecht. Der Aufsteiger, der sich seiner gesellschaftlichen Stellung nicht sicher sein kann, hat zwei Möglichkeiten: Er lässt sich in die Geheimnisse der guten Gesellschaft einweisen, oder er trotzt und beharrt auf dem Comment der Straße. China mag einen Haufen Gründe haben, sich nicht die feineren Methoden der Herrschaftssicherung vom Westen abzuschauen, dessen Eliten nicht trotz, sondern gerade wegen Rechtsstaatsprinzip und Pressefreiheit so unverrückbar fest im Sattel sitzen; Stabilität und Ruhe im Inneren wird es auf seine kleinbürgerliche Knüppelweise nicht erreichen, weder auf kurze noch auf lange Sicht.

Wenn schon Kapitalismus, dann doch bitte richtig: Mit Wahlen, die nichts ändern, und der sich daraus ergebenden Gelassenheit in Angelegenheiten von Dissidenz und Pluralismus. Es kann doch nicht sein, dass in China noch nie wer von repressiver Toleranz gehört hat. (derStandard.at, 8.4.2011)