Kinderarzt Kaan Boztug entschlüsselt Genome, um dort die Ursachen für Erkrankungen zu finden. Sein besonderer Fokus: seltene Erkrankungen. "Über Defekte lernen wir biologische Zusammenhänge verstehen", ist er überzeugt und fordert mehr Geld für diese Forschungsfelder.

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Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.

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STANDARD: Leukämie im Kindesalter kann heute in vielen Fällen geheilt werden. Woran forschen Sie?

Boztug: Die Behandlung der Akuten Lymphatischen Leukämie (ALL) bei Kindern ist tatsächlich eine der ganz großen Erfolgsgeschichten der Medizin. In den 1970er-Jahren hatten wir Überlebensraten von 15 Prozent, heute liegen sie bei mehr als 80. Es gibt andere Formen der Leukämie, etwa die Akute Myeloische Leukämie (AML), bei der wir nur in etwa 60 Prozent aller Fälle erfolgreich sind. Unsere gute Statistik hilft aber all jenen nicht, die zu dem Teil der Patienten gehören, bei denen die etablierte Behandlung nicht den gewünschten Erfolg zeigt. Warum spricht ein Patient auf die Therapie an, ein anderer nicht? Das interessiert mich. Trotz aller Erfolge gibt es großen Handlungsbedarf.

STANDARD: Mit welchen Methoden arbeiten Sie?

Boztug: Wir sequenzieren das Genom von Patienten und suchen nach den molekularen Strukturen, die zur Erkrankung führen. Wir können jetzt schon erkennen, dass sich unter dem Deckmantel ALL oder AML viele verschiedene unterschiedliche molekulare Erkrankungen verbergen, die jede für sich selten sind, sich aber in der Symptomatik ähneln. Wir müssen die genetischen Signaturen verstehen lernen, um dann die verschiedenen Formen ganz spezifisch zu behandeln.

STANDARD: Wie ist es bisher?

Wir behandeln Leukämie nach genauen Standards, beobachten aber, dass ein Kind auf die Behandlung besser anspricht, ein anderes weniger oder gar nicht. Wir müssen wissen, warum das so ist, um jedes Kind spezifisch zu behandeln. Es gilt, die immer noch sehr toxische Therapie zu variieren, sie nur jenen Kindern zuzumuten, die auch wirklich davon profitieren, und für andere Alternativen zu haben. Es geht darum, Marker zu finden, die uns über die Art der Leukämie und damit über den therapeutischen Angriffspunkt Auskunft geben.

STANDARD: Genetische Vorgänge sind doch sehr komplex. Wie kommen Sie zu Erkenntnissen?

Boztug: Wir vergleichen Leukämiezellen mit gesunden Zellen eines Patienten und erkennen dadurch Schlüsselstellen. Wir haben Hinweise, dass immer wieder ähnliche genetische Signaturen bei verschiedenen Untergruppen von Leukämiepatienten auftauchen. Was vor uns liegt, ist der Schritt von der genetischen Abweichung zu den molekularen Mechanismen, die in diesen Zellen fehlgesteuert sind. Welche Gene sind involviert? Wie spielen sie zusammen? Das gilt es zu klären, um zielgerichtet therapieren zu können.

STANDARD: Werden wir bald noch stärker unterschiedliche Formen von Leukämie unterscheiden müssen?

Boztug: Wir tendieren dazu, Dinge zu vereinfachen, wenn wir sie nicht ausreichend verstehen. Der Wissenszugewinn in der Genetik zeigt, dass unsere Kategorisierung vieler Erkrankungen wahrscheinlich zu einfach war. Ich beschäftige mich auch sehr intensiv mit seltenen Erkrankungen wie etwa angeborenen Immundefekten. Für betroffene Kinder kann jede Infektion lebensbedrohlich sein. Diese Forschung ist auch deshalb so wichtig, weil wir über Defekte grundlegende biologische Zusammenhänge begreifen können. Hierfür gibt es leider viel zu wenig Budget und Aufmerksamkeit. Kinder mit seltenen Erkrankungen sind die Waisen der Medizin mit oft langem Leidensweg. Es muss Aufgabe der Ärzte und Wissenschafter sein, sich für sie einzusetzen. Ich bin überzeugt, dass uns die Erforschung dieser Krankheiten auch in anderen medizinischen Fragen weiterbringt.

STANDARD: Unterscheiden sich Kinder und Erwachsene sehr?

Boztug: Vollkommen. Kinder haben häufig ganz andere Erkrankungen mit einer ganz anderen Biologie, sie sprechen anders auf Medikamente an. Auch bei Leukämie. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.

STANDARD: Sondern?

Boztug: Wir wissen, dass bei vielen kindlichen Erkrankungen eine genetische Disposition der Eltern vererbt wird oder während der vorgeburtlichen Entwicklung erworben wird. Bei Erwachsenen hingegen sammeln sich genetische Abweichungen häufig über die Jahre an, entstehen also Erkrankungen auf ganz andere Art, etwa auch durch Umwelteinflüsse. Erkrankungen entstehen also ganz anders als bei Kindern.

STANDARD: Tauschen Kinderärzte und Onkologen für Erwachsene ihr Wissen aus?

Boztug: In der modernen Medizin beginnen wir gerade, fachliche Grenzen zu überwinden. Doch es ist viel zu tun. Wir müssen gemeinsame Strukturen und Netzwerke schaffen, es werden nicht alle Erkrankungen immer in ein und demselben Spital behandelt, sondern es muss spezialisierte Zentren für unterschiedliche Erkrankungen geben - nicht nur national, sondern auch europaweit. Wir haben aber auch hier am Centrum für Molekulare Medizin (CeMM) in Wien vor, Grenzen aufzubrechen, um klinische Forschung, also die Arbeit mit den Patienten, stärker als bisher an die Grundlagenforschung anzubinden. Die molekulare Medizin bietet die Chance, technologischen Fortschritt für den individuellen Patienten auch tatsächlich nutzbar zu machen.

STANDARD: Welche Ziele sollte Forschung für Kinder haben?

Boztug: Was die seltenen Erkrankungen betrifft, kann ich nur sagen: Die Eltern dieser Kinder sind verzweifelt, da sie oft nicht einmal eine Diagnose erhalten. Wir brauchen Zentren, an denen wir diagnostizieren und betreuen können, und wir müssen mithelfen, Therapien zu entwickeln.

STANDARD: Wie werden die genetischen Erkenntnisse die Therapien verändern?

Boztug: Sobald wir die genetischen Ursachen einer Erkrankung kennen, werden wir in die Signalwege eingreifen können. Zielgerichtete Therapien etwa mit "small molecules" wären eine Option, aber auch gentherapeutische Maßnahmen. In den nächsten zehn Jahren wird viel passieren. Ein schönes Beispiel für neue therapeutische Wege: Es gibt eine bestimmte, seltene Form von chronisch entzündlicher Darmerkrankung bei Kindern, bei der wir zeigen konnten, dass sie von einem einzigen Gendefekt hervorgerufenen wird, der aber das Immunsystem betrifft. Wir haben uns getraut, bei einem Kind, das durch Medikamente nicht zu behandeln war, eine Knochenmarktransplantation durchzuführen. Wir konnten das Kind heilen. Solche Wege sind nur durch die Kenntnis der genetischen Ursachen möglich.

STANDARD: Was brauchen Sie dafür?

Boztug: Eine gute Kommunikation unter den Wissenschaftern, eine internationale Vernetzung, hochspezialisierte Zentren, aber natürlich auch ein Verständnis vonseiten der Forschungsförderung, die unsere Projekte unterstützt.(DER STANDARD, Printausgabe, 06.04.2011)