Wien - Frau Dr. Ilse K. hat andere Sorgen. Im Bezirksgericht gibt es keine Klimaanlage. Das Taschentuch ist von Tränen durchtränkt und nimmt den Schweiß nicht mehr auf. Die weiße Dauerwelle verebbt und hängt in laschen Strähnen ins Gesicht. Auf den Gängen - Gesindel. Die Juristen - böse. Die Sprache - brutal. Ein Diebstahlprozess ist eine Zumutung für eine 71-jährige Historikerin. "Aber ich habe ein reines Gewissen", trotzt sie: "Ich habe mich niemals selbst bereichert." Alles geschah nur für Wolli und Rolli.

Frau Dr. Ilse K. hat im recht großen Stil Katzenfutter für ihre beiden Lieblinge gestohlen. Cellinis Saliera hätte sie mit dieser Methode nicht erobert, aber für Schachteln vom Feinsten aus dem Supermarkt reichte es immer wieder: Sie füllte die Pappkartons, stellte sie neben das Drehkreuz beim Eingang, erledigte ihre eigenen Einkäufe, passierte die Kassa und holte sich die Schachteln nachher ab. Beim letzten Mal war ihr ein junger Mann beim Tragen behilflich - der Kaufhausdetektiv. Wenig später besuchte sie daheim ein Polizist. Er stieß auf ein Katzenfutterarsenal, bestehend aus gut 100 Packungen Kitekat, Whiskas, Sheba und Integra Sensitives.

Protest gegen Preispolitik

"Ein bisschen ungewöhnlich, nicht?", fragt die Richterin. "Wieso? Andere legen sich Weinvorräte an", erwidert die Pensionistin. - "Weine haben aber kein Ablaufdatum." - "Bei uns daheim ist noch nie etwas schlecht geworden", erwidert die Beschuldigte. Den Diebstahl sieht sie als "Protest gegen die unverschämte Preispolitik seit Einführung des Euro" an: "Wissen Sie, was so eine kleine Dose Sheba kostet?" - "Nein, aber mich wundert, dass Sie es wissen, Sie haben ja nie eine gekauft", ätzt die Richterin.

Auf Zeugen wird verzichtet. Das Gericht begnügt sich mit einem Foto von Wolli und Rolli. "Ziemlich fettleibig, die beiden", bemerkt die Richterin. "Das ist eine schlechte Aufnahme", erwidert die Akademikerin schroff. Sie wird mit einer bedingten Geldstrafe nach Hause geschickt. (Daniel Glattauer/DER STANDARD, Printausgabe, 14.5.2003)