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"Radioaktivitätsflüchtlinge": Zehntausende Menschen, deren Land und Häuser sich in der Nähe des havarierten AKWs befinden, könnten dorthin wohl niemals wieder zurück, verkündete der japanische Regierungssprecher Yukio Edano.

Foto: AP/Lee Jin-man

Drei Wochen nach dem extremen Erdbeben in Japan und dem darauffolgenden Tsunami, der mit einer 14-Meter-Welle auch über das AKW Fukushima hinweg rollte, wurde am Freitag erstmals ein Teil der langfristigen, existenziellen Schäden durch die Atomkatastrophe genannt. Zehntausende Menschen, deren Land und Häuser sich in der Nähe des havarierten AKWs befinden, könnten dorthin wohl niemals wieder zurück, verkündete der japanische Regierungssprecher Yukio Edano.

Er meinte wohl jene 70.000 Personen, die aus der 20-Kilometer-Zone bereits evakuiert worden sind, weil die Verstrahlung viel zu hoch ist. Plus - vielleicht- 66.000 Bewohner des weiteren Zehn-Kilometer-Umkreises, denen vorerst "nur" geraten wird, das Weite zu suchen - oder aber ununterbrochen in den Häusern zu bleiben, bei möglichst geschlossenen Fenstern.

Evakuierung, das hört sich nach "In-Sicherheit-Bringen" an. Doch um nicht herumzureden: Was diesen Menschen bevorsteht, ist Vertreibung - infolge einer Energiegewinnungstechnik, die das Potenzial dazu hat, "AKW"- oder auch "Radioaktivitätsflüchtlinge" zu produzieren. Abertausende werden ohne eigenes Zutun ihrer Existenzgrundlage beraubt. Ein Vergleich mit der weltweit zunehmenden Zahl von Klimaflüchtlingen, deren Lebensgrundlage aufgrund der Erderwärmungsfolgen geschwunden ist, drängt sich auf.

Immense Verluste

In beiden Fällen verlieren Menschen ihre Heimat, ihr zu Hause. Im Fall von Klimaflüchtlingen sind anhaltende Trockenheit und unfruchtbar gewordene Böden die Ursache - oder aber, bei steigendem Meeresspiegel, anhaltende Überflutungen. Zu ihrem Schutz wird derzeit ein Zusatzprotokoll zur Genfer Flüchtlingskonvention erwogen.
"Radioaktivitätsflüchtlinge" wiederum müssen weg, weil die Umgebung eines AKW nach exzessivem Strahlungsaustritt für Generationen vergiftet ist - samt Häusern und Einrichtungsgegenständen, die um sauer verdientes Geld angeschafft wurden. Um Entschädigung müssen die Betroffenen mit staatlichen Verwaltungen streiten: AKW-Betreiberfirmen haften nur für Bruchteile der Verluste, in Deutschland etwa bis zu einer Höhe von 2,5 Milliarden Euro.

Auch sozial und psychisch steht beiden ein Flüchtlingsschicksal bevor. Entwurzelung hat gravierende Spätfolgen, bei AKW-Vertriebenen kommt noch Stigmatisierung hinzu, das zeigen Langzeitbeobachtungen unter den 117.000 Evakuierten nach der AKW-Explosion im (damals sowjetischen) Tschernobyl.

Unvermeidbare Unfälle

Die Spätfolgen des AKW-Unfalls in Tschernobyl kostet die Ukraine auch heute noch alljährlich fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Mit derart großen Summen müssen im Grunde alle Staaten rechnen, die auf Atomenergiegewinnung setzen. Denn schwere Kernenergie-Unfälle sind nicht vermeidbar, das sollte nach Tschernobyl und - jetzt - Fukushima endgültig klar sein. Ereignisse, auch wenn sie nur mit geringer Wahrscheinlichkeit eintreffen, treffen dennoch ein.

Vernünftig betrachtet, verliert dadurch auch das Argument, durch Atomstromgewinnung könnten der CO2-Ausstoß und damit der Klimawandel verlangsamt werden, an Relevanz. Um durch Atomstromnutzung weitere Klimafluchten zu verhindern, müssten viele neue AKW gebaut werden, und dafür sind die Sicherheitsbedenken inzwischen wohl zu groß. Es sei denn, man nimmt in Kauf, dass noch mehr Menschen als derzeit „Radioaktivitätsflüchtlinge" auf Abruf sind. AKW-Befürworter wie der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy sind dazu offenbar bereit. (Irene Brickner, derStandard.at, 2. April 2011)

Irene.Brickner@derStandard.at