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Sopranistin Anna Netrebko: "Es gibt auch Rollen, die ich technisch singen könnte, die ich aber nicht mag."

Foto: APA/dpa/Rolf Haid

Mit Daniel Ender sprach sie über Interviews, Rollenwahl und die Veränderungen ihrer Stimme.

STANDARD: Es ist eine ziemliche Herausforderung, Sie zu interviewen, weil Sie praktisch schon alles gefragt wurden. Gibt es eine Frage, die Ihnen noch nie gestellt wurde, etwas, über das Sie gern sprechen würden?

Netrebko: Das ist schwer zu sagen. Ich bin inzwischen ziemlich geübt darin, Fragen zu beantworten, aber nicht im Fragen-Stellen. Es gibt viele gute Journalisten, die interessante, auch schwere Fragen stellen. Auf der anderen Seite kommen dann Fragen wie: "Warum haben Sie sich entschieden, Pergolesi zu singen?" Das ist, als fragte man: "Warum singen Sie Verdi?" Was soll man da sagen?

STANDARD: Gab es in Ihrer Karriere Punkte, die für Sie beängstigend waren?

Netrebko: Anfangs war es etwas beängstigend: Als alle sagten, ich sei jetzt ein Star, was nicht gestimmt hat - weder von meiner Berufserfahrung noch von meinem Denken her. Inzwischen habe ich damit umzugehen gelernt. In Russland sagt man: "Ich sitze auf dem Pferd" - ich weiß, was ich zu tun habe.

STANDARD: Wie fühlen Sie sich in eine Figur wie Anna Bolena ein? Bei Donizetti sind die Figuren nicht so aus Fleisch und Blut wie bei Mozart oder Verdi - bedeutet das eine andere Herangehensweise, eine andere Form der Identifikation?

Netrebko: Anna Bolena ist extrem dramatisch. Die Besonderheit ist, dass es viel mehr Recitativo concertato gibt als in anderen Bel- canto-Opern, voller Wut, Leidenschaft und Unruhe. Man braucht dafür eine sehr starke Persönlichkeit und muss auch schauspielerisch überzeugen. Sonst geht das schief. Wichtiger als die Koloraturen ist die Psychologie dieser großen historischen Porträts, die sehr komplexe Charaktere sind. Die Probenarbeit der letzten Wochen war fantastisch. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal so bei der Sache war - auch, weil die Rolle für mich neu ist.

STANDARD: Die Rolle ist auch von der Stimmlage her neu für Sie?

Netrebko: Der Part ist oft tiefer geschrieben als die normale Stimmlage eines Soprans. Ich habe mich gefragt, warum das so ist. Donizetti wollte diese Tiefe, die oft in die Bruststimme geht, für den dramatischen Effekt. Manchmal ist das sehr erdig.

STANDARD: Die Rolle scheint zum richtigen Zeitpunkt zu kommen: Ihre Stimme ist in den letzten Jahren dunkler und voller geworden.

Netrebko: Ja, bald nach der Geburt meines Kindes. Aber ich versuche, sie oben zu halten, so gut es geht. Als ich die Lucia gesungen habe, die eine sehr hohe Partie ist, habe ich rasch gemerkt, wie sich meine Stimme nach unten entwickelt und mehr Volumen bekommen hat. Es ist aber leichter zu singen - und ein gutes Gefühl.

STANDARD: Hat sich auch technisch etwas für Sie geändert?

Netrebko: Ja, vor allem der Atem. Wenn man den kontrolliert, kann man fast alles singen. Natürlich muss man vorsichtig bleiben. Ich will nichts Verrücktes machen - etwa zur Tosca zu springen, die man mir oft angeboten hat -, aber langsam etwas dramatischere Rollen singen.

STANDARD: Wie und wie weit im Voraus planen Sie die Entwicklung Ihres Repertoires?

Netrebko: Auf etwa fünf Jahre. Die sind aber auch noch nicht ganz verplant. Ich vertraue dabei meiner Intuition und liege meistens richtig. Es gibt auch Rollen, die ich technisch singen könnte, die ich aber nicht mag. Nicht, weil ich die Musik oder die Figur nicht mag, sondern weil sie nicht zu mir passen, weil sie keine Funken bei mir auslösen. Desdemona ist eine davon. Ich könnte sie von der Stimme her singen, aber das ist nicht meins, genauso wie Luisa Miller oder Simon Boccanegra.

STANDARD: Ist es Ihnen schon einmal passiert, dass Sie eine Rolle zugesagt haben, die Ihnen dann nicht gepasst hat?

Netrebko: Nein. Ich bin ziemlich vorsichtig. Einmal sollte ich Elettra in Idomeneo singen und musste absagen, obwohl ich die Rolle liebe. Aber ich war nicht genug vorbereitet. Wenn man berühmt ist, wird man besonders streng beurteilt. Ich kann nicht zwei ganz verschiedene Rollen gleichzeitig singen. Die Stimme muss sich auf jede Rolle einstellen. Als ich mit Anna Bolena angefangen habe, war ich in der ersten Woche ohne Stimme. Und das ist völlig normal.

STANDARD: Das klingt gefährlich.

Netrebko: Ist es auch. Deswegen muss man aufpassen und sollte daneben nichts anderes singen. Das ist wie bei einem Sportler, der etwas Neues lernt. Die Muskeln sind kaputt und brauchen Zeit, sich zu regenerieren. Man braucht in diesem Beruf einen sehr klaren Kopf, sonst geht man kaputt.

STANDARD: Wie geht das mit den Emotionen zusammen, der Identifikation mit der Rolle, die man auf der Bühne braucht?

Netrebko: Den klaren Kopf braucht man vor allem in der Vorbereitung. Zuerst muss alles technisch sitzen. Aber am Beginn, wenn ich eine neue Rolle lerne, gibt es immer einen Punkt, wo ich von den Gefühlen überwältigt werde. Das ist mir etwa bei Tschaikowsky so gegangen. Aber da muss man durch und die eigenen Gefühle in den Griff bekommen. Das braucht perfekte Kontrolle. (Daniel Ender, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 2./3. April 2011)