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"Der Fokus liegt immer ganz stark auf Abschlüssen und Noten. Buben schneiden da im Schnitt schlechter ab als Mädchen, wobei sich dies in der Hochschulbildung ab den Promotionen umkehrt."

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"Ich würde Buben nicht als bildungsbenachteiligt gegenüber Mädchen bezeichnen, weil das die Komplexität der Situation nicht beschreibt."

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Buben sind keine "Bildungsverlierer", zumindest nicht in einem höheren Ausmaß, wie das auch Mädchen sein können. Zu diesem Ergebnis kommt der deutsche Wissenschafter Thomas Viola Rieske. Er erklärt im Interview mit derStandard.at, weshalb Buben mit den schulischen Anforderungen schlechter klarkommen, bei Mädchen aber häufiger Leistungsängste auftreten.

derStandard.at: Sie haben eine Studie erstellt um herauszufinden, ob Buben in den deutschen Bildungsinstitutionen benachteiligt werden. Wie kam es zu dieser Fragestellung?

Rieske: In den letzten Jahren gab es sehr viele Medienberichte und Buchveröffentlichen, wo gesagt wurde, dass Mädchen die Jungs überholt hätten und Buben jetzt Bildungsverlierer seien. Gleichzeitig gab es eine sehr starke Schuldzuweisung in Richtung Lehrkräfte, vor allem Lehrerinnen. Zum Teil wird auch unabhängig von den Handlungen der Lehrkräfte gesagt, dass Buben allein deshalb schlechter abschneiden, weil sie in Bildungsinstitutionen auf wenige Männer als Identifikationsfiguren treffen.

derStandard.at: Und sind die Buben benachteiligt?

Rieske: Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass man das so nicht sagen kann. Zwar verlassen Buben die Schule seltener mit einem Abitur und es gibt mehr Buben als Mädchen, die die Schule ohne Abschluss verlassen. Buben haben im Schnitt auch schlechtere Noten als Mädchen. Man muss aber fragen: Welche Buben haben überhaupt diese Schwierigkeiten? Am ehesten ausgesetzt sind diesen Problemen Buben aus sozial schwachen Familien, die wenig Ermutigungen zur Teilhabe an schulischer Bildung erhalten, sowie Buben, die Rassismuserfahrungen machen.

Der andere Punkt ist, dass der Fokus immer ganz stark auf Abschlüssen und Noten liegt. Buben schneiden da im Schnitt schlechter ab als Mädchen, wobei sich dies in der Hochschulbildung ab den Promotionen umkehrt. Aber es gibt auch andere Aspekte von Bildung, zum Beispiel treten bei Mädchen häufiger Leistungsängste auf. Mehr Mädchen als Buben gaben in einer Studie an, dass sie abends vor dem Einschlafen über die Schule nachdenken. Das sind auch Folgen von Schule, die womöglich aus dem Blick geraten.

derStandard.at: Und dabei spielt das Geschlecht der LehrerInnen keine Rolle?

Rieske: Nach den bisherigen Studien jedenfalls ist diese Idee nicht bestätigt worden. Manchmal waren Buben sogar etwas besser, wenn sie von einer Frau unterrichtet wurden als von einem Mann, aber nicht sehr stark.

derStandard.at: Woran liegt es dann, dass die Mädchen die besseren Noten haben? Liegt das nur an Faktoren wie Fleiß, der den Mädchen zugeschrieben werden?

Rieske: Es dürfte auf jeden Fall ein Grund sein. Bei der Gymnasialempfehlung in Deutschland zeigt sich, dass nicht nur die kognitiven Kenntnisse der Kinder eine Rolle spielen, sondern auch eine Einschätzung der sozialen Kompetenzen. Da schneiden Mädchen im Schnitt etwas besser ab als Buben. Es scheint so zu sein, dass Geschlechterkonstruktionen und Zuschreibungen eine wesentliche Rolle spielen. Buben erfahren von Gleichaltrigen, von Älteren, von Darstellungen in Medien eine Reihe an Männlichkeitsbildern, zum Beispiel Überlegenheitsansprüche, das Vertrauen auf eigene Begabungen, das Überschreiten von Regeln. Das kann sie mit schulischen Anforderungen in Konflikt bringen.

Hinzu kommt, dass Buben teilweise auch gar nicht zugetraut wird, Hilfe zu benötigen. Aber eine größere Fleißbereitschaft kann auch Nachteile mit sich bringen, sofern es sich dabei um die Einübung in die Akzeptanz fremd gesetzter Regeln und Anforderungen handelt. Deshalb scheint mir auch die These, dass Schule eher auf die Bedürfnisse von Mädchen zugeschnitten ist, nicht sinnvoll. Sicherlich ist es wichtig, sich an den Interessen von Kindern zu orientieren, aber die Gefahr ist, dass man sich dabei an Stereotypen orientiert, zum Beispiel dass Buben mehr Bewegung brauchen als Mädchen. Wer sagt denn, dass Mädchen das nicht auch mögen?

derStandard.at: Es heißt immer, dass Buben in den Naturwissenschaften gut sind, Mädchen in den Sprachen. Ist das auch bestätigt worden?

Rieske: Bei den PISA-Studien wurde das in etwa bestätigt, wobei die größten Geschlechterunterschiede im Lesen in der Erstsprache auftraten. Aber in einzelnen Teilbereichen gibt es Unterschiede. Im sprachlichen Bereich gab es zum Beispiel beim Verständnis von Texten mit Grafiken oder Tabellen und dem Ermitteln von Informationen nur geringe Geschlechterdifferenzen. Die größten Differenzen zugunsten von Mädchen gab es bei Aufgaben zum Reflektieren und Bewerten sowie bei reinen Schrifttexten. Auch variieren die Differenzen nach Bundesländern und Schulformen. Man muss also sehr differenziert schauen, um Förderbedarf bestimmen zu können.

derStandard.at: Warum kann man Ihrer Ansicht nach nicht von Feminisierung der Bildungseinrichtungen sprechen? Es gibt ja mehr Lehrerinnen als Lehrer.

Rieske: Man sollte nicht nur auf den zahlenmäßigen Anteil schauen, sondern auch darauf, wer welche Arbeiten übernimmt. Je besser die Tätigkeit bezahlt wird, je eher es um Entscheidungen geht, je privilegierter die SchülerInnen sind, je eher es eine Vollzeitstelle ist, je mehr gesellschaftliche Anerkennung es gibt, desto eher finden sich Männer. Das kriegen Kinder und Jugendliche mit. Sie treffen außerdem selten auf eine Vielfalt in unter PädagogInnen hinsichtlich sexueller Identität, Migrationsgeschichte, kultureller Zugehörigkeit oder körperlichen Fähigkeiten. Insofern ist nicht schlichtweg der geringe Männeranteil das Problem, sondern das mangelnde Vorleben von gleichwertiger Vielfalt und fairer Arbeitsteilung.

derStandard.at: Kann man also nun sagen, wir müssen uns keine Sorgen um die Buben machen?

Rieske: Doch! Natürlich benötigen Buben Unterstützung, genauso wie Mädchen, in der Auseinandersetzung mit schulischen Anforderungen und Geschlechterbildern. Ich würde Buben aber nicht als bildungsbenachteiligt gegenüber Mädchen bezeichnen, weil das die Komplexität der Situation nicht beschreibt. Außerdem sind die Probleme ja nicht gelöst, wenn Buben und Mädchen in gleichem Maße gut und schlecht abschneiden, denn dann gibt es immer noch Menschen, die die Schule mit schlechten Aussichten verlassen. Hier ist meines Erachtens auch eine größere Perspektive nötig, denn Pädagogik allein kann die mit sozialer Ungleichheit verknüpften Probleme nicht beheben. (Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 29.3.2011)