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Diese grafische Darstellung zeigt die Ausbreitung des Tsunami nach dem Erdbeben in Japan.

Foto: REUTERS/NOAA/National Environmental Satellite, Data, and Information Service

Pier Francesco Biagi: "Zwei, drei Monate vor dem Beben sank plötzlich die Kohlendioxidkonzentration."

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Kurt de Swaaf sprach mit ihm über Methoden der Früherkennung.

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STANDARD: Wissenschafter haben in den vergangenen Jahrzehnten mehrere unterschiedliche Methoden entwickelt, um Anzeichen von bevorstehenden Erdbeben erkennen zu können. Wie vorhersagbar sind Beben wirklich?

Biagi: Es gibt große Fortschritte in der Erforschung von Erdbebenvorzeichen. Wir haben gute Parameter und verschiedene Phänomene, die auf bevorstehende Erschütterungen hinweisen. Doch das ist alles nur in wissenschaftliche Studien dokumentiert. Es gibt noch nirgendwo eine staatliche Organisation, die diese Möglichkeiten konsequent für die Vorhersage von Erdbeben nutzt. Das ist nicht die Aufgabe von Unis, sondern von Behörden. Bislang werden eben nur Daten gesammelt. Aber es wäre möglich. Wir sind bereits in der Lage, Vorhersagen machen zu können.

STANDARD: Gab es also auch eine Möglichkeit, die Katastrophe in Japan vorherzusehen?

Biagi: Das japanische Erdbeben war ein sehr schweres, und es gab gewiss viele physikalische Störungen, die in seinem Vorfeld auftraten. Man hätte es vorhersehen können, wenn man die erforderlichen Messdaten richtig gesammelt, ausgewertet und ein gutes Warnsystem organisiert hätte.

STANDARD: Welche sind die vielversprechendsten Frühwarnmethoden, die zur Verfügung stehen?

Biagi: Momentan ist das großflächige Messen der Bodentemperatur mittels Satelliten unter Forschern sehr beliebt. Vor einem Erdbeben steigt die Temperatur der Erdoberfläche, und dies kann nur aus großer Höhe richtig beobachtet werden. Des Weiteren lassen sich Veränderungen der Ionenkonzentrationen in der Ionosphäre, einer oberen Schicht der Atmosphäre, messen. Sie treten ab zehn Tagen vor einem Erdbeben auf und werden von Gasen verursacht, die aus der angespannten Erdkruste aufsteigen, Wir bezeichnen diese Prozesse als Atmosphäre-Lithosphäre-Kopplung.


STANDARD: Sie selbst haben Veränderungen im Grundwasser untersucht, die vor einem Beben auftreten. Welche sind das?

Biagi: Diese Studien habe ich zusammen mit Kollegen auf der ostrussischen Halbinsel Kamtschatka durchgeführt. Die Konzentrationen von im Wasser gelöstem Argon, CO2, Methan und anderen Verbindungen stiegen einige Jahre, bevor dort ein Erdbeben losbrach. Das untersuchte Wasser stammte aus ungefähr einem Kilometer Tiefe. Auslöser dieses Phänomens waren vermutlich wieder Risse im Felsmaterial der unter Stress stehenden Erdkruste. Zwei, drei Monate vor dem Beben sank plötzlich die CO2-Konzentration wieder - ein deutliches Zeichen.

STANDARD: An der Untersuchung des Erdbebens, welches im April 2009 die Stadt L'Aquila in den italienischen Abruzzen zerstörte, waren Sie auch beteiligt. Dort traten vorher Störungen von Radiowellen auf. Was ging da konkret vor sich?

Biagi: Wir beobachteten eine Schwächung eines Very-Low-Frequency-Signals, welches von einer französischen Sendestation ausgesandt wurde, exakt sieben Tage bevor die Erde bebte. Radiowellen werden unter anderem für geophysikalische Messungen verwendet. Ein dazu installierter Empfänger befand sich in einer Höhle nur 13 Kilometer vom Epizentrum des damaligen Bebens entfernt. Die Felsen im Bereich der Spannungszone sandten vor- her elektromagnetische Wellen aus und störten so das Radiosignal.

STANDARD: Wäre das Erdbeben von L'Aquila vorhersagbar gewesen?

Biagi: Meiner Meinung nach ja. Gerade in Italien wäre so etwas relativ einfach, weil es dort neben Indikatoren für ein bevorstehendes Beben nur wenig andere physikalische Signale und Störungen in der Erde gibt. Unsere Arbeit wird dadurch erleichtert. In Japan dagegen rumort es ständig im Untergrund. Das macht es schwieriger, die Anzeichen klar zu erkennen.

STANDARD: Welche Phänomene können sonst auf seismische Bedrohungen hinweisen?

Biagi: Auch radioaktives Radongas kann zum Beispiel bei erhöhter Anspannung in der Erdkruste vermehrt durch Risse im Fels austreten. Allerdings sind diese Steigungen schwer messbar, weil oft eh schon recht viel Radon abgegeben wird.

STANDARD: Wie ließen sich Erdbebenfrühwarnsysteme entwickeln?

Biagi: Die beste Lösung wäre, wenn man Netzwerke aus Messstationen errichten würde, die Daten über verschiedene Parameter sammeln könnten. Diese Messwerte sollten dann stetig kombiniert ausgewertet werden. Dafür müssen allerdings die geologischen Gegebenheiten in den jeweils überwachten Regionen sehr genau bekannt sein. Jeder Untergrund hat seine spezifischen physikalischen und chemischen Eigenschaften, und diese wirken sich charakteristisch auf die Messdaten aus. Das ist entscheidend für deren Interpretation. Radiosignale können hingegen überall auf der Erde gleich eingesetzt werden. Sie sind für Frühwarnungen am besten geeignet, weil ihre Störungen sehr klar erkennbar sind, und weil sie präzise Informationen über die Position des Epizentrums des bevorstehenden Bebens liefern.

STANDARD: Vorausgesetzt, man würde in gefährdeten Gebieten zuverlässige Erdbebenfrühwarnsysteme installieren, welche sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen hätten sie auf die Gesellschaft?

Biagi: Nun ja, die Beantwortung solcher Fragen ist nicht die Aufgabe der Naturwissenschaften. Es ist eher ein politisches Problem. Die komplette Evakuierung von Großstädten zum Beispiel wäre nicht nur extrem schwierig, sondern auch mit Risiken verbunden. Man könnte die Bevölkerung aber besser auf das Beben vorbereiten und viele Vorsichtsmaßnahmen treffen, Krankenhäuser in Alarmbereitschaft versetzen und die Menschen so wenig Zeit wie möglich in Gebäuden verbringen lassen. Das wäre hilfreich. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.03.2011)