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"Nach Tschernobyl hat die Kontamination der Milch über den Umweg von Gras eine entscheidende Rolle gespielt."

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Manfred Ditto: "Ist die Kontamination hoch und werden keine Gegenmaßnahmen getroffen, können die Auswirkungen unter Umständen dramatisch sein."

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derStandard.at: Wie gefährlich ist radioaktiv verseuchtes Essen für den Menschen?

Ditto: Das Risiko einen langfristigen Schaden durch die Entstehung von Krebs zu erleiden, ist abhängig von der Höhe der radioaktiven Kontamination der Nahrungsmittel und der Menge, die der Mensch davon konsumiert.

derStandard.at: Das heißt akut können radioaktiv kontaminierte Nahrungsmittel für den Menschen nicht gefährlich sein?

Ditto: Nein, weil niemand so viel radioaktiv kontaminiertes Essen zu sich nehmen kann, dass ihm dieses akut gefährlich wird. Außerdem ist die Kontamination von Lebensmitteln auch viel zu gering dafür. Mit akuten Folgen müssen in Japan nur Menschen rechnen, die sich in unmittelbarer Nähe zum Reaktor aufhalten. Welches Ausmaß diese Schäden erreichen, ist, wie gesagt, abhängig von der erhaltenen Dosis. Im Fall von Japan kann dieses Ausmaß durchaus beträchtlich sein.

Grundsätzlich ist zwischen akuten deterministischen und längerfristigen stochastischen Strahlenschäden zu unterscheiden. Die deterministischen Wirkungen sind eine Konsequenz hoher Strahlendosen. Sie besitzen eine Schwellendosis, unterhalb der keine Schäden auftreten. Bei Dosen über den Schwellendosen treten sie jedoch mit Sicherheit auf. Sie sind umso schwerer, je höher die Dosis ist. Das fängt etwa bei Hautrötungen infolge externer Bestrahlung an und geht hin bis zum Tod wegen Organversagens bei sehr hohen Dosen.

Die stochastische Wirkung von Strahlung ist eine völlig andere. Im Strahlenschutz gehen wir davon aus, dass es dafür keine Schwellendosis gibt. Auch ist die Schwere des Schadens nicht wie bei deterministischen Effekten abhängig von der Dosis, sondern es steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Schaden eintritt, mit der Dosis an. Die wesentlichste stochastische Wirkung von ionisierender Strahlung ist die Entstehung von Krebs.

derStandard.at: Welche Substanzen sind problematisch?

Ditto: Alle radioaktiven Substanzen können gefährlich sein. Radiocäsium ist aber deshalb in aller Munde, weil Cäsium-137 neben Radioiod bei atomaren Unfällen das bestimmende Nuklid ist. Während radioaktives Iod-131 wegen der kurzen Halbwertszeit von acht Tagen nur in der ersten Phase problematisch ist, hat Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren lange Zeit noch eine gewisse Bedeutung.

derStandard.at: Wie gelangen die radioaktiven Substanzen in das Essen? 

Ditto: Im Prinzip gibt es zwei Möglichkeiten der Kontamination. Das eine ist eine direkte Kontamination durch die durchziehende radioaktive Wolke. Diese Art der Kontamination spielt dann eine große Rolle, wenn die Vegetationsperiode zum Zeitpunkt des Ereignisses so ist, dass bereits Pflanzen auf dem Feld stehen. Die radioaktiven Staubteilchen bleiben dann daran haften. Die zweite Kontaminationsmöglichkeit ist die Aufnahme von Radionukliden aus dem Boden. Sie spielt, von einigen Spezialfällen abgesehen, aber nur eine untergeordnete Rolle.

derStandard.at: Es muss also nicht regnen?

Ditto: Nein, aber bei Regen ist die direkte Kontamination um ein Vielfaches höher als bei einer sogenannten trockenen Deposition. Nach Tschernobyl hat die direkte Kontamination etwa von Gemüse und, über den Umweg von Gras, der Milch eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Der Grund dafür ist: Der Unfall in Tschernobyl hat Ende April stattgefunden. Einer Jahreszeit also, in der alles im Wachsen begriffen ist. In Japan spielt die direkte Kontamination derzeit eine viel geringere Rolle, da dort in der Umgebung der betroffenen Reaktoren zurzeit die Wachstumsperiode nicht voll im Gange ist.

derStandard.at: Wie bedeutend ist der Transfer vom Tier zum Menschen?

Ditto: Nach Tschernobyl war dieser Transfer von großer Bedeutung. Vor allem Milch und Rindfleisch waren mit Radiocäsium und Radioiod zum Teil stark belastet. Der Grund war, dass Rinder zu dieser Jahreszeit üblicherweise auf Weiden sind, deren Gras damals relativ hoch belastet war. Schweine- und Hühnerfleisch waren dagegen kaum kontaminiert, weil es zum einen kaum Freilandhaltung gab und diese Tiere mit nicht kontaminiertem Futter gefüttert wurden.

derStandard.at: Wie lange ist die Strahlenbelastung in den Nahrungsmitteln von Bedeutung?

Ditto: Das ist wie erwähnt abhängig von der radioaktiven Substanz, insbesondere von deren Halbwertszeit. Iod-131 spielt daher nur in der Anfangsphase eine Rolle, weil seine Halbwertszeit mit nur acht Tagen relativ kurz ist. Cäsium-137 hingegen hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren. Wie lange Radiocäsium in Lebensmitteln tatsächlich von Bedeutung ist, hängt aber auch davon ab, wie viel Radiocäsium von den Pflanzen aus dem Boden aufgenommen wird. Üblicherweise nehmen Gemüse und Getreide aus Böden sehr wenig davon auf, weil Cäsium stark an den in Böden vorhandenen Tonmineralien gebunden ist. So waren bereits im zweiten Jahr nach Tschernobyl die Produkte aus der Landwirtschaft, die ja nicht mehr direkt kontaminiert wurden, praktisch nicht mehr belastet. Mit sehr empfindlichen Messmethoden lässt sich Radiocäsium freilich noch nachweisen. Wegen der geringen Mengen sind jedoch praktisch keine gesundheitlichen Auswirkungen zu erwarten. Höhere Radiocäsium-Gehalte sind jedoch nach wie vor in einigen Waldprodukten, wie etwa Pilzen, Beeren oder Wild, zu finden.

derStandard.at: Warum?

Ditto: Wie oben bereits gesagt, wird Radiocäsium an den Tonmineralien der Ackerböden stark gebunden und kann von den Pflanzen dort nur minimal aufgenommen werden. In Waldböden und zum Teil auch in Almböden ist der Gehalt an Tonmineralien in den oberflächlichen Schichten jedoch wesentlich geringer. Radiocäsium ist daher für Pilze und Pflanzen bei diesen Bodenarten stärker verfügbar.

derStandard.at: Das heißt 25 Jahre nach Tschernobyl sollte man beim Pilze essen immer noch aufpassen?

Ditto: Aufpassen brauchen wir insofern nicht, weil niemand so viele Pilze isst, dass die Radioaktivität auch eine gesundheitliche Konsequenz hat. Außerdem hängt die Belastung auch sehr von der Art der Pilze ab. Die bei uns sehr beliebten Eierschwammerl und Steinpilze nehmen eher wenig Radiocäsium auf, Parasole praktisch überhaupt nicht. Sehr aufnahmefähig sind dagegen Reifpilze und Maronenröhrlinge. Es ist keine Kunst, in Österreich 25 Jahre nach Tschernobyl Reifpilze zu finden, deren Radiocäsium-Gehalt über den Grenzwerten liegt.

derStandard.at: Das heißt, auf den Kauf getrockneter Shiitakepilze aus Japan sollte man derzeit besser verzichten?

Ditto: Meines Wissens sind importierte Shiitakepilze gezüchtete Pilze, wie die bei uns im Handel befindlichen Champignons auch. Radiocäsium ist natürlich nur in Wildpilzen enthalten, also Pilzen, die im Wald wachsen. Zuchtpilze enthalten kein Radiocäsium. Zurzeit werden alle Lebensmittelimporte aus Japan vom Gesundheitsministerium auf Radioaktivität untersucht. Es besteht also kein Grund zur Besorgnis für die österreichische Bevölkerung.

derStandard.at: Steffen Nichtenberger von Greenpeace rät derzeit vom Kauf von Polardorsch ab. Bedeutet das: In Österreich darf man keine Fischstäbchen mehr essen?

Ditto: Es hängt natürlich davon ab, wo der Fisch gefangen wird. Ich nehme aber an, die Polarmeere sind noch nicht von den Ereignissen in Japan betroffen. Möglich ist aber, dass in den Fischen des Pazifik Radioaktivität zu finden ist. Allerdings ist die Verdünnung im Meer sehr groß, sodass keine großen Mengen in Fischen zu erwarten sind. Die Lebensmittelbehörden halten die betroffenen Fanggebiete aber streng unter Beobachtung, und beginnen erforderlichenfalls mit entsprechenden Importkontrollen. Beim Fischkauf in Österreich brauchen wir also nicht aufzupassen.

derStandard.at: Wäre es theoretisch möglich, dass sich die Wolke aus Japan noch über uns ergießt und uns gefährlich wird?

Ditto: Gefährlich ganz bestimmt nicht. Theoretisch ist es zwar möglich, dass in den nächsten Wochen geringe Mengen an radioaktiven Stoffen bis nach Österreich kommen. Vielleicht können wir mit unseren hochempfindlichen Messverfahren dann sogar Spuren an Radiumcäsium in Luftproben nachweisen. Allerdings ist das alles sehr unwahrscheinlich und eine Gefahr ist völlig auszuschließen.

derStandard.at: Wie müssen die Menschen vor Ort mit dem Verzehr von Lebensmitteln umgehen?

Ditto: Aus der Distanz ist das schwer zu beurteilen. Die japanischen Behörden werden aber sicher entsprechende Maßnahmen treffen. Zum Glück wächst in den betroffenen Regionen Japans jahreszeitlich bedingt derzeit relativ wenig. Eine direkte Kontamination fällt damit weg und die nachfolgende Aufnahme über die Pflanzenwurzeln ist wesentlich geringer.

derStandard.at: Bei uns ist immer wieder von Lebensmitteln die durch Pestizide und andere Schadstoffe verseucht sind, die Rede. Scheint da nicht die Angst vor radioaktiv verseuchten Lebensmitteln etwas übertrieben?

Ditto: Ich würde sagen: Unser Essen macht uns im Allgemeinen nicht wegen der enthaltenen Schadstoffe krank, sondern weil wir das Falsche und vor allem zu viel davon essen. Ich bin kein Experte und weiß daher nicht, wie hoch das Risiko durch die Kontamination mit Schwermetallen im Vergleich zu radioaktiv belasteten Lebensmitteln ist. Das Risiko von stochastischen Wirkungen durch radioaktiv kontaminierte Lebensmittel war nach Tschernobyl außerhalb bestimmter Gebiete der damaligen Sovietunion jedenfalls gering.

Schilddrüsenkrebs bei Kindern (bislang etwa 6000 registrierte Fälle) in einigen stark belasteten Gebieten der Ukraine, Weißrusslands und Russlands ist die einzige mit Sicherheit auf Tschernobyl zurückzuführende Krebsart. Das Problem damals war die Milch, die mit radioaktivem Jod kontaminiert war und von den dortigen Behörden nicht aus dem Verkehr gezogen wurde. Wenn also die Kontamination hoch ist, und keine Gegenmaßnahmen getroffen werden, dann können die Auswirkungen unter Umständen dramatisch sein. In unseren Breiten sind wir vom Tschernobylunfall aber weder über den Lebensmittelpfad, und noch viel weniger über den Luftpfad, in einem solch hohen Ausmaß betroffen gewesen. (derStandard.at, 21.3.2011)