Mathias Steinhoff, Biologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Öko-Institut Darmstadt, Fachbereich Nukleartechnik & Anlagensicherheit.

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Helmut Gadner, hat 30 Jahre lang das St. Anna Kinderspital in Wien geleitet. Seit 2010 ist er in Pension und am Forschungsinstitut der St. -Anna-Kinderkrebsforschung tätig.

Foto: Helmut Gadner

Böse Strahlung, gute Strahlung. Der deutsche Biologe Mathias Steinhoff erklärt Grundsätzliches über die Wirkung von Strahlen. Der Krebsspezialist Helmut Gadner vom St. Anna Kinderspital resümiert, welche gesundheitlichen Folgen Tschernobyl hatte. Die Fragen stellten Karin Pollack und Jutta Berger.

Standard: Vor 25 Jahren gab es den Super-GAU in Tschernobyl. Erinnert Sie Fukushima daran?

Gadner: Ja natürlich. Unsere Sorge als Ärzte war groß. Wir hatten damals vor allem Angst, dass die Leukämie-Erkrankungen dramatisch steigen würden.

Standard: Sind sie gestiegen?

Gadner: Nein. Wir haben in einer Reihe von Studien festgestellt, dass die Zahl der Leukämie-Erkrankungen in den von Tschernobyl stark in Mitleidenschaft gezogenen Gebieten nicht gestiegen ist. Die Fallzahlen sind gleich hoch wie in vielen anderen europäischen Ländern. In einer skandinavischen Studie wurden sogar die 1986 - im Jahr des Reaktorunfalls - Geborenen langfristig beobachtet. Das Ergebnis: keine statistisch relevanten Hinweise auf ein Ansteigen von Leukämie.

Standard: Kein Grund zur Sorge?

Gadner: Das sage ich nicht. Aber 25 Jahre nach Tschernobyl sind das die Fakten. Mögliche Zusammenhänge können wir nicht beweisen. Sicher ist, dass nach einem Atomunfall Schilddrüsenkarzinome häufiger auftreten.

Standard: Welche Isotope werden bei einem Reaktorunfall frei?

Steinhoff: In der ersten Zeit des Fallouts vor allem Jod und Caesium, bei einer großen Explosion auch Strontium. Diese Isotope sind vor allem für das Einatmen und die Kontamination, die Verunreinigung über die Haut maßgeblich. Es kann auch zur Freisetzung von Plutonium kommen, wobei sich Plutonium eher langfristig über die Nahrungskette anreichert.

Standard: Wie wirken sich diese Isotope auf den Organismus aus?

Steinhoff: Jod reichert sich in der Schilddrüse an, Jodtabletten sind aber nur im Notfall relevant. Jetzt hier in Europa Jodtabletten zu nehmen macht keinen Sinn. Sie wirken nur, wenn man sie kurz vor der Freisetzung nimmt, dann entsteht eine Jodblockade, die Schilddrüse wird angereichert und kann das radioaktive Jod nicht mehr aufnehmen.

Standard: Was ist mit Cäsium?

Steinhoff: Wenn die Wolke über den Menschen ist, werden sie mit Cäsium bestrahlt, wenn sie es auf der Haut haben, strahlt es nach innen, wenn sie es einatmen, bestrahlt es von innen. Wenn es sich auf dem Boden ablagert und wir gehen darüber, sind wir der Strahlung ausgesetzt. Wir können Cäsium auch über Nahrung aufnehmen. Es lagert sich in den Muskeln ab und führt zu einem allgemein höheren Krebsrisiko. Strontium wird ebenfalls durch Einatmen oder die Nahrung aufgenommen, es lagert sich in den Knochen ab und kann zu Krebs führen. Plutonium ist ein Alpha-Strahler, die haben eine sehr kurze Reichweite von wenigen Millimetern, aber extrem hoher Energie. Sie dringen durch die Haut nicht durch. Sehr gefährlich ist es aber, wenn wir es mit der Nahrung oder durch kontaminierte Hände verschlucken. Es erhöht auch das Krebsrisiko.

Gadner: Aus unseren statistischen Untersuchungen nach Tschernobyl konnten wir einstweilen keine erhöhten Krebsraten feststellen.

Standard: Welcher Strahlung und welcher Dosis sind wir generell im Alltag ausgesetzt?

Steinhoff: Die übliche Jahresdosis für natürliche Strahlung beträgt in in Österreich und Deutschland eins bis fünf Millisievert. In Japan hingegen ist der normale Level der zurzeit zu messenden Dosisleistung bei etwa 0,06 Millisievert pro Stunde. Im Alltag sind wir mit natürlicher Radioaktivität konfrontiert. Etwa durch Radon, ein Spaltprodukt der natürlichen Urankette, das aus dem Boden kommt und eingeatmet wird. Radon-Vorkommen sind regional unterschiedlich. Wir gehen davon aus, dass es zum großen Teil für Lungenkrebs verantwortlich ist. Dann wäre da noch die kosmische Strahlung bei Langstreckenflügen.

Standard: Wo kommt man bei medizinischen Behandlungen mit Radioaktivität in Kontakt?

Steinhoff: Zur Diagnose von Tumoren werden radioaktive Marker eingesetzt, radioaktive Quellen braucht man für Strahlentherapie.

Standard: Und Röntgenstrahlung?

Steinhoff: Röntgenstrahlung ist eine ionisierende, aber keine radioaktive Strahlung. Sie ist ebenfalls schädlich, deshalb werden Menschen bei Untersuchungen abgeschirmt, die Exposition medizinischen Personals wird so gering wie möglich gehalten.

Gadner: Bis in die 80er-Jahre wurden Krebspatienten - auch bei Leukämien - zusätzlich zur Chemotherapie mit relativ hohen Dosen Röntgenstrahlung auf das zentrale Nervensystem behandelt. Das führte längerfristig zu einem Ansteigen von Gehirntumoren bei diesen Patienten. Mittlerweile haben wir die Strahlendosen auf ein Minimum beschränkt, bei den meisten Formen von Leukämie verzichten wir ganz darauf und haben mit Chemotherapie dieselben guten Ergebnisse. Eine Strahlentherapie erfolgt immer streng kontrolliert. Ziel ist es, Krebszellen im Körper zu zerstören.

Standard: Woran orientiert man sich bei den Grenzwerten?

Steinhoff: Am Alter. Es gibt Grenzwerte für Säuglinge, Kleinkinder, Kinder und Erwachsene. In Deutschland gelten für Ableitungen aus Kernkraftwerken 0,3 Millisievert Jahresdosis, unabhängig vom Alter. Durch einen Reaktorunfall am stärksten gefährdet sind Kinder und schwangere Frauen.

Standard: Wie kann sich die Kontaminierung des Meeres, wie wir sie zurzeit erleben, auswirken?

Steinhoff: Dass Löschwasser ins Meer gelangt, nimmt man jetzt in der Katastrophe als geringeres Übel in Kauf. Im Salzwasser reichert sich Radioaktivität weniger stark in Fischen an als im Süßwasser, weil im Salzwasser ein anderes Milieu herrscht. Es kommt quasi zur Konkurrenz zwischen den starken Ionen im Wasser und den radioaktiven Ionen. Im konkreten Fall muss man sagen, dass es besser ist, dass der Fallout auf den Ozean statt auf bewohnte Gebiete niedergeht. Problematisch ist allerdings die Kontaminierung des küstennahen Bereichs, weil die Nahrungskette des Menschen betroffen ist. Langfristig wird man die Belastung messen und entscheiden müssen, ob man den Verzehr von Nahrungsmitteln verbietet. (DER STANDARD Printausgabe, 21.03.2011)