"Um uns selbst für wenige Jahrzehnte eine vermeintlich billige Energie zu verschaffen, belasten wird zigtausende nachfolgende Generationen", sagt Konrad Paul Liessmann über die "Sackgasse" Atomkraft.

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Philosoph Konrad Paul Liessmann über Atomkraft als "Sonderfall von Technik", Verantwortungslosigkeit als Prinzip und wie aus 24 hellen Stunden 24.000 dunkle Jahre werden können. Mit ihm sprach Lisa Nimmervoll.

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STANDARD: Wie ist das zu erklären, dass ein Land wie Japan, das über dem "Pazifischen Feuerring" liegt - wenn es irgendwo auf der Welt bebt, dann ist das Epizentrum zu 90 Prozent dort -, seit mehr als einem halben Jahrhundert die Atomkraft ausbaut. Tollkühn?

Liessmann: Man darf nicht vergessen, Japan war das erste und einzige Land, das Opfer der militärischen Nutzung der Atomkraft geworden ist. Zwei Städte, Hiroshima und Nagasaki, wurden durch Atombomben zerstört. Es mag von daher eine bestimmte Form der Verarbeitung oder auch Verdrängung dieser Zerstörung sein, zu zeigen, dass man Atomkraft nicht nur für die Bombe, sondern auch für friedliche Energiegewinnung verwenden kann. Und Japan gehört zu den westlichen Ländern, die ein hohes Maß an Vertrauen in Technologie haben, während kontinentaleuropäische Gesellschaften manchmal im Verdacht stehen, technikfeindlich zu sein. Aber unter bestimmten Bedingungen zeigt sich, dass eine gewisse Form von Technikfeindlichkeit dann doch auch eine Form der Klugheit sein kann.

STANDARD: Japan sichert 30 Prozent seines Energiebedarfs mit AKW.

Liessmann: Kernkraftwerke, nicht nur in Japan, sondern weltweit, funktionieren nur unter der Prämisse, dass diejenigen, die davon den Nutzen und den Gewinn haben, für etwaige katastrophale Folgen nicht einstehen müssen, weil diese Folgen zu groß sind. Statistisch gesehen mögen diese Katastrophen nur extrem selten eintreten, aber wenn sie eintreten, sind die Konsequenzen so verheerend, dass nicht nur ganze Länder oder Kontinente betroffen sind, sondern auch künftige Generationen. Die radioaktiven Zerfallsprodukte des Reaktors von Tschernobyl sind noch immer vorhanden, das darin vorkommende Plutonium hat eine Halbwertszeit von 24.000 Jahren. Was war vor 24.000 Jahren? Das Neolithikum. Wir rechnen also damit, dass Menschen in 24.000 Jahren noch das Wissen, die Technologien, die Ressourcen haben werden, um mit diesen noch immer vor sich hin strahlenden Objekt fertigzuwerden.

STANDARD: Ist die Atomkraft also eine Zauberlehrlings-Technologie?

Liessmann: Der Philosoph Günter Anders hat das schon vor einem halben Jahrhundert exakt beschrieben: Wir haben eine Technik entwickelt, deren Dimensionen wir uns nicht mehr vorstellen können. Wenn ich jemandem sage, was du jetzt machst, wird Folgen haben, und deine Kinder werden daran sterben, dann kapiert man das. Wenn ich jemandem sage, was du jetzt machst, wird Folgen haben, und in einer Million Jahre werden die Menschen noch Probleme damit haben, zucken wir mit den Achseln. Das ist eine grundsätzliche Diskrepanz, die paradoxerweise den Einsatz solcher Technologien erleichtert. Wenn die Katastrophe so groß ist, dass ohnehin die ganze Menschheit auf Jahrtausende davon betroffen ist, dann ist es auch schon egal. Anders sprach von der "Überschwelligkeit" dieser Technologie. Diese Technologie ist schädlich, weil sie eine Logik hat, die es unmöglich macht, die Verantwortung für ihre Folgen individuell oder als Konsortium von Kernkraftbetreibern oder, wie im Fall der ehemaligen Sowjetunion, als Staat zu übernehmen.

STANDARD: Welche Konsequenzen müssten gezogen werden?

Liessmann: Die philosophische Konsequenz wäre, nur Dinge herzustellen, die wir uns noch vorstellen können. Die Atomkraft ist ein Sonderfall von Technik, die, wenn etwas passiert, nicht nur unsere Vorstellung, sondern auch unsere Möglichkeiten, damit umzugehen, über alle Maßen und über unvorstellbare Zeiträume beansprucht. Es ist völlig klar, dass das jetzt nicht mehr nur eine Sache der Japaner ist und nicht nur der jetzt lebenden Menschen. Man könnte natürlich sagen: Das Allereinfachste wäre, dass man die Sicherheits- und Folgekosten der Atomkraft in den Energiepreis einrechnet. Dann wäre klar, dass sich dies schon ökonomisch nicht rechnet. Energie aus Atomkraft funktioniert nur deshalb, weil die Folgekosten nicht von den Nutznießern getragen werden, sondern von allen.

STANDARD: Müssen wir lernen, die Katastrophe auszuhalten, mit ihr zu kalkulieren und trotzdem einfach so gut wie möglich leben?

Liessmann: Die Menschen haben immer mit Katastrophen kalkulieren müssen und weitergelebt. Es hat ja auch niemand die Schifffahrt eingestellt, nur weil die Titanic, die als unsinkbar galt, gesunken ist. Wir sollen jetzt auch nicht die Abkehr von der Technik fordern. Man muss nur sehen, dass mit der Atomkraft eine singuläre Technologie entwickelt wurde, die ich für eine Sackgasse halte. Wie auch immer das in Japan ausgeht, man muss sehen, dass schon aufgrund der Begrenztheit der Uranvorräte Atomkraft vielleicht nur noch einige Jahrzehnte einsetzbar ist. Man hat dann vielleicht insgesamt 100 oder 150 Jahre Energie bekommen, aber man braucht Endlagerstätten, die eine Million Jahre halten müssen. Das ist die eigentliche Hybris dahinter: Um uns selbst für wenige Jahrzehnte eine vermeintlich billige Energie zu verschaffen, belasten wir zigtausende nachfolgende Generationen. Die Alternative muss sein, andere Energien und Verfahren zu entwickeln, die vorstellbare und begrenzte Auswirkungen haben. Der Energiehunger der Welt hat ja fast pathologische Züge angenommen. Man könnte den Verbrauch schon auch reduzieren. Es müssen nicht alle Städte 24 Stunden beleuchtet sein auf dieser Erde. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.3.2011)

Konrad Paul LIESSMANN (57) ist Professor für Philosophie und seit 2008 Vizedekan der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaften der Uni Wien.