Joëlle Stolz hat einige Jahre in Libyen gelebt: ein Blick zurück im Zorn - und in Sorge um die libyschen Freunde.

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Ich habe in Libyen von 1995 bis 1999 gelebt. Ich konnte dort nicht als Journalistin arbeiten. Aber in vier Jahren erfährt man viel über ein Land, und es entsteht eine tiefe innere Verbindung, die weder Zeit noch Entfernung jemals auflösen können.

So wie alle war ich überrascht, dass das Gaddafi Regime so schnell in diesem blutigen Amok zusammenbrechen könnte. Hatte es sich nicht über mehr als vierzig Jahre bewährt? Es konnte jene, die ihm Widerstand entgegensetzten, niederschlagen, oder eine Unterwerfung erkaufen, Sündenböcke bestimmen, die Menschen geistig vom Rest der Welt isolieren - und dabei die Türe gerade so weit offen halten, dass das Öl in den Pipelines floss, um dann in Form von Dollars, Zucker, Mehl, Autos oder anderen Gütern, die der Staat verteilen wollte, zurückzufließen.

Heute suche ich inmitten der Menschenmassen, die sich in Tobruk, Bengasi, Misurata, Tripolis erhoben haben, unwillkürlich das Gesicht von Amal. Letzte Woche erhielt ich ein e-Mail aus Tripolis, zu einer Zeit, wo Internetverbindungen in Libyen sporadisch wieder hergestellt waren: "Die Spitäler sind überfüllt mit Toten und sterbenden jungen Menschen. Helikopter fliegen über der Stadt in Richtung Osten. Betet für uns."

Amal ist keine Heldin, die bereit wäre, gegen die Macht auf die Straße zu gehen, so wie die Ägypterin Asma Mahfouz, deren Videobotschaft auf Facebook die Opposition herausgefordert hat: "Wenn ihr noch einen Funken Ehre und Männlichkeit besitzt, dann kommt auf den Tahrir-Platz" , wiederholte die junge Frau mit der islamischen Kopfbedeckung.

Amal ist Juristin. Mit ihrem Mann hat sie in Europa studiert. Beide hätten Libyen auf Zehenspitzen verlassen können. Sie sind geblieben, wollten nützlich sein, ohne sich zu kompromittieren, hatten aber wenig Hoffnung auf einen echten Wandel.

Unser letztes Treffen fand bei einem kurzen Zwischenstopp in Tripolis statt, im Herbst 2003, auf dem Weg in die Wüstenstadt Ghadames. Wir hatten nur zwei Stunden für einander Zeit, sicher gab es Mikrophone unter dem Tisch im Restaurant, aber Amals Redebedürfnis war nicht zu bändigen. Sie hatte eine Reform des libyschen Strafrechts initiiert, das vor repressiven Maßnahmen nur so strotzt. Ihre Juristenkollegen fanden ihr Unternehmen überflüssig: wozu auch, wenn überall Willkür herrsche... Sie war pessimistisch, was die Zukunft des Landes anging. "Jetzt sind schon beinahe zwei Generationen in diesem System aufgewachsen, und sie kennen nichts anderes." - Und dann, wie aus einem fast erloschenen Vulkan, die Wut und der Mut dieser Jugend: " In den ersten Tagen stapelten die Polizisten die Toten auf der Straße auf, um die Demonstranten zu beeindrucken. Sie haben weiter gemacht" , erzählt ein französischer Arzt, der den Aufbruch in Bengasi miterlebt hat.

Natürlich gibt es rationale Erklärungen. Libyen hätte sich nicht erhoben ohne das Beispiel Tunesiens und Ägyptens und der Gewissheit, dass sich beiderseits der Grenze ein Raum des Möglichen eröffnet hatte. Das Land hätte sich nicht erhoben ohne die technischen Möglichkeiten, der Zensur zu trotzen - 1999 gab es 20.000 Handys im Land, heute gibt es Millionen davon. Der freie Zugang zur Information, der Wunsch nach Demokratie - das sind Werte, die wir gerne in der neuen "arabischen Revolution" wiedererkennen, weil sie uns vertraut sind.

Aber vielleicht liegt der wesentliche Grund der Rebellion in der Botschaft Asma Mahfouz', die die muslimische Welt mitreißt: ein Aufstand des Ehrgefühls, eine phänomenale Wiederherstellung der Würde - damit bringt man die israelische Rechte mehr zum Nachdenken als mit 50 Armeedivisionen.

Keiner arabischen Nation wurde ihre Erniedrigung so nachdrücklich vor Augen geführt wie Libyen in den Reden des Führers der Revolution. Er forderte die Emanzipation der Frauen, um die arabischen Männer zu beschämen, diese "Memmen, über die die ganze Welt lacht, besiegt vom Golf bis zum Atlantik" . Für ihn waren die Golfmonarchien "Amerikas Ehefrauen" - in einer polygamen Familie.

Mit Frauen ging er nicht viel sanfter um, diesen "Legehennen" , die nur daran denken, sich von ihren Gatten schöne Kleider schenken zu lassen: "Ihr macht ein Studium und dann werft ihr euch einem Schwächling an den Hals, der in euch nur eine Magd sieht!" . Oft hat er gegen den Konservatismus einer patriarchalen Gesellschaft gedonnert - die letzte Festung gegen sein Regime.

Niemals würden seine "Kinder" seinen ambitionierten Anforderungen genügen. Sie waren zum Scheitern verurteilt. Allah ghaleb, "Gott ist Sieger" , dieses Leitmotiv in der libyschen Umgangssprache bedeutete: Nimm es hin, unterwerfe dich, dein Vater Gaddafi ist der Größte. So omnipräsent, dass es nicht einmal notwendig war, ihn beim Namen zu nennen. Er war Qaid, der Chef, oder Rajel, der männliche Mann, Inbegriff der Potenz inmitten einer kastrierten Gesellschaft. In Bengasi, einer traditionell aufständischen Stadt, kursierte einst eine merkwürdige Geschichte: ein Schiff war im Hafen eingelaufen, mit Kleidung als Fracht. Aber es gab nur Röcke, und eine einzige Hose ...

Heute werfen junge Libyer ihre Schuhe auf die Videowände, auf denen der alte Tyrann seine Verwünschungen ausspeit. Nein, er wird nicht mehr der Vater der Zukunft für Libyen sein, nicht einmal dessen "Großvater" , wie es einer seiner Söhne unlängst vorschlug. Der britische Journalist Robert Fisk zitiert eine arabische Quelle, die mit Gaddafi stundenlang zu Beginn der Revolte gesprochen hatte: Während rund um ihn die Wut tobte, sorgte sich der Führer um die Referenzen eines guten Schönheitschirurgen. "Mein Königreich für ein Lifting" blieb leider nicht das letzte Wort dieser ubuesken Tragödie. (Aus dem Französischen von Esther Hecht/DER STANDARD, Printausgabe, 5.3./6.3.2011)