Großbritannien steht unter Schock. Wie kaum ein anderes Volk definieren sich die Briten über ihre jahrhundertealte Tradition von Parlamentarismus und Weltoffenheit. Aber in derselben Woche, in der ein netter Film über die Adaptionsfähigkeit althergebrachter britischer Institutionen bei den Oscars abräumt, verbreitet eine aktuelle Umfrage Angst und Schrecken im Mutterland der Demokratie.

Laut „Populus" bekunden 63 Prozent der weißen Briten, dass die Immigration schlecht für ihr Land gewesen sei. Ja, anscheinend wäre fast die Hälfte aller Briten sogar bereit, für eine rechtsradikale Partei zu stimmen.

Müssen wir uns also um die Zukunft der Musterdemokratie auf der anderen Seite des Ärmelkanals sorgen? Wird die Queen einen Rechtsradikalen vom Schlage Jörg Haiders oder Pym Fortuyns zum nächsten Premierminister ernennen müssen?

Die Krise hat England hart getroffen

Die Möglichkeit ist, so abstrus sie zunächst klingen mag, leider nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir alle - Sozialwissenschaftler wie auch Normalbürger - schließen viel zu denkfaul von der Gegenwart auf die Zukunft. Rechtspopulistische Parteien wie die British National Party haben in England bisher nur wenige Erfolge feiern können. Deshalb gehen wir einfach davon aus, dass sie auch in absehbarer Zukunft zahnlos bleiben werden.

Zu unserer Überraschung haben sich aber andere europäische Länder, die wir auch nicht gerade für besonders intolerant hielten, in den letzten zehn Jahren radikal gewandelt. Wir wissen mittlerweile, dass, trotz ihrer idyllischen Vergangenheit, weder Schweden noch Holland gegen die politischen Konsequenzen eines stets wachsenden Ausländerhasses immun waren. England ist es auch nicht.

Erschwerend hinzu kommen noch besondere Risikofaktoren. Die Wirtschaftskrise hat England besonders hart getroffen. Die deshalb notwendig gewordenen Radikalkürzungen sind zwar schon beschlossen, aber noch lange nicht umgesetzt. Und die etablierten Parteien sind momentan so unbeliebt wie kaum sonst wo in Europa - Labour ist nach 13 Jahren im Amt weithin verachtet, die Torries sind nach einem Jahr im Amt schon fast genauso verhasst, und den Liberaldemokraten traut ohnehin niemand. Insgesamt sieht die Lage also geradezu brenzlig aus.

Die Moderaten haben die größte Chance

Trotzdem stimmen mich zwei Umstände vorsichtig optimistisch. Der erste hat mit dem englischen Wahlrecht zu tun. Wie der französische Politikwissenschaftler Maurice Duverger in den 50er-Jahren entdeckte, ist in Ländern mit Mehrheitswahlrecht unter normalen Umständen nur für zwei Parteien Platz.

Nur moderate Parteien haben in den meisten Wahlkreisen eine realistische Chance, die Mehrheit der Stimmen auf sich zu vereinen. Da die meisten Wähler - selbst solche mit extremistischen Ansichten - ihre Stimme nicht verschwenden wollen, machen sie ihr Kreuzchen deshalb bei einer der großen Volksparteien. Und selbst wenn ein paar Hartgesottene trotzdem für kleine, radikale Parteien stimmen, ist es viel weniger wahrscheinlich als in unserem Wahlsystem, dass diese es schlussendlich ins Parlament schaffen.

In England, wie auch in den USA, haben es extremistische Parteien deshalb besonders schwer. Sehr repräsentativ ist das sicherlich nicht: Die Meinungen vieler Menschen werden auf diese Art systematisch vom politischen Diskurs ausgeschlossen. Gleichzeitig sorgt das Mehrheitswahlrecht aber für eine größere Stabilität des etablierten Parteiensystems. In Zeiten der populistischen Wut kann das für die Demokratie durchaus gesund sein.

Englischer als die Engländer

Einen zweiten Grund zum Optimismus beziehe ich aus einem überraschenden Detail der Umfrage. 34 Prozent der weißen Briten sprechen sich demnach für einen permanenten Einwanderungsstopp aus. Das ist sehr hoch - aber noch höher ist mit 39 Prozent die Anzahl der Briten asiatischer Herkunft, die zukünftigen Immigranten die Eingangstür versperren wollen.

Wie ist das möglich? Vielleicht so: Die meisten meiner englischen Freunde, die aus Ländern wie Indien oder Pakistan stammen, kommen nicht einmal darauf, dass man sie für Ausländer halten könnte. Logischerweise unterscheiden sich ihre Meinungen zu neuen Immigranten also auch kaum von den Einstellungen anderer Briten.

In dieser Hinsicht hat Deutschland weiterhin ein besonderes Problem. Auf der Insel fühlen sich viele Einwanderer als Briten - und werden auch weithin so wahrgenommen. Bei uns dagegen fühlen sich die meisten Migranten weiterhin wie Außenseiter.

Die Einwanderungsdebatte hat hier deshalb einen ganz anderen Sprengstoff als dort. In England mag die Stimmung gegen Einwanderer gerade besonders hoch hergehen. Aber die meisten Briten wenden sich dabei gegen Menschen, die noch nicht - oder erst sehr kurz - im Lande sind. Bei uns dagegen geht es immer auch um die vielen Millionen, die schon seit Jahrzehnten hier leben.

Ich möchte nicht ausschließen, dass es in England bald einen Rechtsruck geben könnte. Selbst dann würde sich das Parteiensystem aber wahrscheinlich nur kaum verändern - und auch das friedliche Zusammenleben zwischen Einwanderern und Einheimischen wäre nicht allzu stark beeinträchtigt. In Deutschland scheint mir ein baldiger Rechtsruck im Vergleich weniger wahrscheinlich. Sollte er aber kommen, wäre unser politisches System in größerer Gefahr - und die Beziehungen zwischen „Deutschen" und „Türken" könnten dann sehr schnell sehr schlecht werden. (derStandard.at, 1.3. 2011)