Gesammelte Erzählungen in Englisch: Cordwainer Smith: "When the People Fell" und "We the Underpeople", broschiert, 624 bzw. 619 Seiten, Baen 2007/2008.
Das zentrale Motiv schlechthin in Cordwainer Smiths Schaffen ist das von der Revitalisierung der menschlichen Gesellschaft, denn auf lange Sicht ist Utopia ein ebenso menschenfeindlicher Ort wie der Weltraum. In ihrem Bestreben nach gerecht zugeteiltem Glück für jedermann ist die allfürsorgliche Instrumentalität zu weit gegangen: "... ihr fesselt die Wahren Menschen an ein Glück, das keine Hoffnung und keinen Ausweg besitzt", muss sich ein Lord der Instrumentalität sagen lassen, als er in "Unter der alten Erde" auf eine Gemeinschaft von Flüchtlingen trifft, welche die Welt, in der alle Taten getan und alle Gedanken gedacht sind, nicht mehr ertragen konnten. "Triste, sinnlose Jahrhunderte des Glücks, während derer die Unglücklichen von ihnen korrigiert oder angepasst oder getötet wurden." Doch spiegelt dies nur wider, was bereits in Erzählungen thematisiert wurde, die viele Jahrtausende zuvor angesiedelt sind, als die Wahren Menschen im Bann einer Kaste standen, die sich der Perfektion verschrieben hatte. Das Element der Vitalität brachten damals bizarrerweise drei Mädchen auf die Erde zurück, die am Ende des Zweiten Weltkriegs im Kälteschlaf ins All geschossen worden waren - um schließlich die Instrumentalität zu gründen und mit ihr die alten Fehler zu wiederholen.
Sie leben in Benommenheit, und sie sterben in einem Traum - die hoffnungslose Glückseligkeit hat tiefe Spuren hinterlassen: "Ist das, was du mit mir machst, ein Verbrechen?" fragt das Mädchen Veesey-koosey in "Denk blau, zähl bis zwei" angesichts einer drohenden Vergewaltigung mit derselben vollkommenen Ahnungslosigkeit, mit der andere später über die Bedeutung von Wörtern wie "Gott" oder "Gnade" rätseln werden. Am stärksten wird die Fremdartigkeit der rundum eingelullten Menschheit in "Alpha Ralpha Boulevard" fühlbar: Paul & Virginia steigen den kilometerhohen Erdhafen empor, um sich von einem alten Computer bestätigen zu lassen, dass ihre Liebe echt und nicht von der Instrumentalität verordnet ist. Die Lebensgefahr in schwindelerregender Höhe ist ihnen nicht bewusst - sie haben keine Angst vor dem Tod, weil sie auch keine Ahnung haben, was Leben bedeutet. Und doch befinden sie sich mitten in einem Umbruch: Die Instrumentalität hat ihren Fehler erkannt und mit der Wiederentdeckung des Menschen das größte Projekt aller Zeiten gestartet. Das Zufallselement wird wieder eingeführt, und mit ihm Krankheiten, Unfälle, Verbrechen und Konflikte: Wir beobachteten an der Augenmaschine, wie die Cholera wieder in Tasmanien eingeführt wurde, und wir sahen die Tasmanier auf den Straßen tanzen, weil sie von nun an nicht mehr beschützt wurden.
Paul & Virginia sind übrigens bei weitem nicht das einzige Liebespaar in den 27 hier versammelten Geschichten, auch dieses Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch Smiths Werk: Da sind der Scanner Martel und seine Frau Luci, die die Entbehrungen des Lebens mit einem Quasi-Untoten bereitwillig auf sich nahm. Oder Artyr Rambo, der als erster den Weg durch Weltraum3 fand, um zu seiner Elizabeth zu gelangen. Oder die leider einseitige Liebe zwischen dem aus einer Katze gezüchteten Girlygirl K'mell und dem Lord Jestocost, die zwar nicht zueinander finden, aber als BegründerInnen einer sozialen Revolution doch für immer in einem Atemzug genannt werden sollten. Und schließlich die immer wieder zitierte "größte Liebesgeschichte aller Zeiten" zwischen dem Schiffskapitän Mr. Nicht-mehr-grau, der durch die Qualen des Weltraums um viele Leben gealtert scheint, und dem unter den Augen eines ganzen Kontinents aufgezogenen "öffentlichen Mädchen" Helen Amerika. Die Aussichtslosigkeit einer solchen Beziehung treibt ihn in seine Heimat zurück - doch ohne sein Wissen übernimmt Helen das Schiff, in dem er in einer Kältekapsel schläft, und steuert es im Alleingang durchs All, um ihn nach 40-jähriger Reise am Zielhafen zu empfangen ("Die Lady, die mit der Seele segelte"). Zusätzliche mythische Überhöhung erfährt die Geschichte dadurch, dass sie rückblickend erzählt wird - auch unter Erwähnung der Generationen von Schauspielerinnen, die Helen seitdem zu verkörpern versuchten.
... auch das eine ganz typische Erzähltechnik Smiths: Viele Geschichten werden aus der Warte noch fernerer Zukünfte erzählt, manchmal auf den Unterschied zwischen Faktizität und künstlerischer Nachbearbeitung hin beleuchtet ("Die tote Lady von Clowntown"), manchmal überhaupt als reine Legende in Frage gestellt ("Unter der alten Erde") und oft in Liedern und Gedichten besungen. Smiths ganz spezielle Sprache unterstreicht den märchenartigen Charakter: Viele Eigennamen bilden Reimpaare (Baiter Gator, Meeya Meefla, Alpha Ralpha Boulevard, ...), zudem entfalten formelhafte Gesprächsteile und rituelle Wiederholungen eine beinahe hypnotische Wirkung. Die hohe Musikalität von Smiths Stil lässt sich nicht leicht in andere Sprachen übertragen - diese Ausgabe enthält zum größten Teil leicht überarbeitete Versionen der Übersetzungen, die der 2004 verstorbene Thomas Ziegler Anfang der 80er Jahre für die Verlage Moewig und Droemer Knaur angefertigt hatte: Eine gute Wahl, denn noch näher kann man der Wirkung der Originale in einer anderen Sprache nur schwer kommen.
All die genannten Elemente fließen in der überragenden Erzählung "The Dead Lady of Clown Town" aus dem Jahr 1964 zusammen, als Smith den Zenit seines Schaffens erreicht hatte. Im Zentrum der Novelle stehen die Untermenschen - ein schwer belastetes Wort, an dem auf Deutsch aber wohl kein Vorbeikommen war (Underpeople heißt es im Original). Seit tausenden von Jahren werden Tierbabies nach ihrer Geburt solange modifiziert, bis sie im Aussehen kaum und in Intelligenz und Gefühlen gar nicht mehr von Menschen zu unterscheiden sind. Doch haben sie keinerlei Rechte, werden "wie Stühle oder Türklinken" benutzt und mitleidlos vernichtet, sobald auch nur der geringste Zweifel an ihrem Nutzen aufkommt. Mehr als einmal drängt sich der Eindruck auf, dass die, die mit einem Namens-Präfix (etwa K'mell bzw. C'mell für "Katze") gebrandmarkt sind, und die niemals am verordneten "Glück" ihrer blutleeren Herren teilhaben durften, die eigentlichen Wahren Menschen sind. Den Beginn ihrer Emanzipation schildert, einmal mehr aus der Warte der Zukunft, das stark religiös geprägte "Die tote Lady von Clowntown": Auf dem Planeten Fomalhaut III entdeckt die Menschenfrau Elaine auf der Suche nach ihrer eigenen Bestimmmung eine im Untergrund lebende Gemeinde von Untermenschen. Diese klammern sich an eine Prophezeiung, derzufolge das Hundemädchen H'jeanne (D'joan) sie zur Freiheit führen wird. - Keine Prophezeiung eigentlich, sondern Ergebnis einer Kalkulation, die besagte "tote Lady" - das auf einen Computer übertragene Bewusstseinsimprint einer Verstorbenen - in subjektiv endlosen elektronischen Zeitaltern durchgeführt hat: Unter allen möglichen Zukünften errechnete sie nur eine, die Hoffnung bringt - und so zieht eine Generation nach der anderen ein Mädchen namens H'jeanne auf, bis zufällige Umstände die Ereignisse tatsächlich ins Rollen bringen.
... natürlich ist der friedliche Aufstand zum Scheitern verurteilt: Die Revolution dauerte sechs Minuten und erstreckte sich über einhundertzwölf Meter. Während Soldaten die Schädel der Babies zerschmettern, die ihnen die Untermenschenmütter mit der Botschaft der Liebe entgegenrecken, erlangt die messianische Gestalt H'jeanne genauso wie ihre christliche Namensvetterin auf dem Scheiterhaufen Unsterblichkeit. Und doch war die Revolution erfolgreich: In den Text eingebaute historische Bewertungen des Ereignisses machen klar, dass die Untermenschen letztlich ihr Ziel erreicht haben - einfach nur deshalb, weil sie die Menschen zum ersten Mal gezwungen haben, sie wahrzunehmen. Schließlich nimmt der vom Autor geschaffene Mythos solche Wucht an, dass er weit über die fiktive Welt hinausstrahlt, wenn H'jeanne/D'joan unter erstmaliger Weglassung ihres Herkunfts-Präfixes erklärt: "I am Joan, and I am dog no more." - Selbst wenn Cordwainer Smith nichts anderes geschrieben hätte: Alleine schon für "The Dead Lady of Clown Town" wäre er in die Annalen der Science Fiction eingegangen. Unbedingte Empfehlung!