Der Zweikampf Mann gegen Ehrenkodex ist epochal. Auch wenn er meist nur um im Stillen abläuft. Die Verlorenheit seiner selbst in den Abgründen der Erwartungen, eigener wie fremder, liefert Stoff für große Tragödien. Im Zivilen, unter dem Eindruck von Tradition, Moral und Familie; ganz besonders aber im Offiziellen. Vor allem dort, wo das Militärische ins Spiel kommt.

Eine Frage von Stolz und Ehre

Lange vor tagesaktuellen Fragen von Stolz und Ehre und den sich daran anschließenden Handlungsoptionen, erzählte Arthur Schnitzler in seiner Novelle „Leutnant Gustl" von einem solch tragischen Fall. Oder besser: Leutnant Gustl selbst erzählt ihn. Eben noch stolzer Offizier, nunmehr das nackte Elend; schutzlos ohne Uniform, geraubt vom kategorischen Imperativ. Leutnant Gustl wird zum Gefangenen des herrschenden Codes. Eines zweiseitigen Codes, der die „Ehre" markiert, die Ehre eines k. u. k. Offiziers im Wien der Jahrhundertwende. Die nicht-markierte Seite des Codes ist das dunkle, unbestimmte Nichts der Ehrlosigkeit.

So dunkel wie die Nacht nach einem Opernbesuch, an dessen Ende sich der unerhörte Vorfall ereignet, der Leutnant Gustl in die Verzweiflung stürzt; so dunkel wie die Schneise, die Leutnant Gustls Verzweiflung durch sein Gehirn schlägt; eine Schneise, an deren Ende nur der ehrenvolle Tod stehen kann, ja stehen muss. Im Verlauf dieser Nacht, im Medium der Verzweiflung, oszillieren Leutnant Gustls Gedanken zwischen beiden Seiten des Codes; überschreiten die Grenze zwischen dem strahlenden Leben des stolzen Offiziers und dem drohenden Dahinvegetieren im Zustand der Würdelosigkeit. Immer und immer wieder. Die Nacht schreitet voran, doch Leutnant Gustl findet keine Ruhe: Die Pistole - der einzige Ausweg! „Nachmittag war noch alles gut und schön, und jetzt bin ich ein verlorener Mensch und muss mich totschießen (...) Ehre verloren, alles verloren!"

Das Scheitern

Und doch: So fürchterlich Leutnant Gustls Schicksal sich ausnimmt, die Tragödie vollzieht sich in seinem Kopf und nur in seinem Kopf. Denn was war eigentlich passiert? Ein Bäckermeister hatte dem ungeduldigen Leutnant im allgemeinen Gedränge vor der Garderobe an den Säbelgriff gefasst und ermahnt: „Herr Leutnant, wenn Sie das geringste Aufsehen machen, so zieh‘ ich den Säbel aus der Scheide, zerbrech‘ ihn und schick‘ die Stück‘ an Ihr Regimentskommando. Versteh'n Sie mich, Sie dummer Bub?" Niemand sonst bemerkte den peinlichen Vorfall. Keine Qualitätspresse und keine aufgebrachte Bloggergemeinde schreiben darüber. Und doch bringt er Leutnant Gustls moralische Grundfesten zum Einsturz: Denn der Bäckermeister gilt ihm als nicht satisfaktionsfähig. Ihn zum Duell zu fordern, um seine Ehre wieder herzustellen, ist ausgeschlossen.

Die Ehrlosigkeit, die ihn zu verschlingen droht, falls er nicht Manns Genug ist, sich dem Kodex zu beugen, ist ein Produkt der reinen Selbstreflexion. Insofern liefert Schnitzler mit seiner „ziemlich sonderbaren Novelle", wie er gegenüber Hugo von Hoffmansthal meint, keine Parallele für aktuelle Ehrlosigkeiten. Leutnant Gustl demontiert sich vor niemand anders als sich selbst. Er ist der einzige Zeuge seines Zögerns und Zauderns, unter dessen Eindruck der für Tagesanbruch fest beschlossene Ehrentod dann einem herzhaften Frühstück im Wiener Kaffeehaus weichen muss. Aber danach..., ja, danach....!

Wenn die Tragödie zum Lustspiel wird

An dieser Stelle finden Schnitzlers Novelle und das aktuelle Geschehen doch noch zu einer gemeinsamen Realität, auch wenn der Tod im Hier und Heute natürlich nur metaphorisch gemeint sein kann. Was als Tragödie begann endet als Lustspiel. Das unrühmliche Ende weicht der Heiterkeit, die Ahnung des unmittelbar bevorstehenden Abgangs verblasst, neuer Mut ergreift den Helden. Das Leben - es hat ihn zurück, den Leutnant Gustl! Gleichwohl führte der Tod Regie, denn an seiner Statt stirbt der Widersacher. Nicht durch eigene Hand, sondern ganz banal durch Herzinfarkt. Nicht satisfaktionsfähig im Leben und nicht im Sterben.

Doch Leutnant Gustl kann das egal sein: Er ist seinem Schicksal entronnen, er hat es im wahrsten Sinne des Wortes „ausgesessen" - auf dem Schemel in seinem Offizierszimmer und hernach im Kaffeehaus. Die normative Kraft des Faktischen hat über den Kodex gesiegt, der „Wahrhaftigkeit" wurde genüge getan, der Imperativ wird zur Farce. Ob der Tod zu Hilfe kommt, die eigene Partei oder die Bundeskanzlerin: Im Rückblick verkümmert alles zur läppischen Episode, wenn man genügend Chuzpe hat. Oder auch nur auf sein morgendliches Frühstück im Wiener Kaffeehaus nicht verzichten will, bevor man die Konsequenzen zieht...