In Libyen kündigte sich Mittwoch eine Flüchtlingstragödie ungeahnten Ausmaßes an. Allein 17.000 in Libyen ansässige Ägypter (siehe Artikel unten) erreichten in den vergangenen 48 Stunden die Grenzstadt Salum. Und einige Hunderttausend weitere Menschen könnten in den kommenden Tagen das Land fluchtartig verlassen.

Als nächstgelegener europäischer Nachbar verfolgt vor allem Italien die Ereignisse mit wachsender Sorge. Außenminister Franco Frattini warnte vor einem "biblischen Exodus" . Wenn der Staat zusammenbreche, könnte Italien "mit einer gigantischen Welle von bis zu 300.000 Flüchtlingen konfrontiert sein" . Ein Drittel der Bewohner Libyens seien Gastarbeiter aus den südlichen Sahara-Staaten. Viele könnten im Chaos versuchen, nach Italien zu flüchten. Frattini forderte die EU auf, ihre "Vogel-Strauß-Politik" aufzugeben.

Die Einstellung der Patrouillen vor der libyschen Küste blieb vorerst ohne Folgen. In Lampedusa landeten am Mittwoch lediglich 38 Tunesier, die bei Windstärke sieben von der Besatzung eines Fischkutters gerettet wurden. Sie waren vier Tage unterwegs gewesen und hatten für die Überfahrt 1000 Euro pro Kopf bezahlt.

Die große Mehrheit der Tunesier will zu Verwandten nach Frankreich und verfügt über keinen Flüchtlingsstatus. Bei Besserung des Wetters rechnet man in Lampedusa mit neuen Ankünften.

Innenminister Roberto Maroni will demnächst in der sizilianischen Gemeinde Mineo einen Lokalaugenschein vornehmen. Nach dem Abzug der US-Truppen aus der nahen Nato-Basis stehen dort rund 1500 Wohnungen leer.

In Libyen ist die Situation nach Muammar al-Gaddafis Androhung, die Proteste wenn nötig blutig niederzuschlagen, völlig unübersehbar. Der Uno-Botschafter des Landes, Ibrahim Dabbashi, warnte vor einem "Völkermord" und berichtete von neuer Gewalt im Westen. Nach italienischen Angaben könnten bei dem gewaltsamen Vorgehen gegen Demonstranten bis zu 1000 Menschen umgekommen sein.

Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon versuchte am Mittwoch den libyschen Staatschef in einem 40-minütigen Telefonat von einem Ende der Gewalt zu überzeugen. Einige Ereignisse "scheinen klare Verstöße gegen das internationale Recht und die Menschenrechte zu sein" , so Ban. Ebenso verurteilte der UN-Sicherheitsrat das brutale Vorgehen der libyschen Sicherheitskräfte gegen Demonstranten.

EU "bereit" zu Sanktionen

Die libysche Botschaft in Österreich distanziert sich in einer Aussendung von der "exzessiven Gewalt gegen friedliche Demonstranten" und ersucht die Weltgemeinschaft den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten und "konkrete Maßnahmen zu setzen, um weitere Opfer zu vermeiden" . Der französische Präsident Nicolas Sarkozy forderte rasch "konkrete Sanktionen" gegen die libysche Regierung.

Die EU-Staaten berieten darüber am Mittwochabend in Brüssel, konnten sich aber vorläufig nicht dazu durchringen. Einige Länder, Zypern, Malta und Italien, blieben skeptisch. Die 27 EU-Mitgliedstaaten seien "bereit" zu Sanktionen gegen das Regime von Muammar al-Gaddafi, falls die Gewalt nicht sofort ende, teilte EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton danach mit. Zuvor hatte es nach Diplomatenangaben geheißen, eine Einigung auf Sanktionen sei erfolgt.

Heute, Donnerstag, treffen sich die EU-Innenminister, um über die Flüchtlingssituation und mögliche Unterstützung für Libyens Nachbarstaaten zu sprechen.

In Teilen Libyens wurde am Mittwoch bereits gejubelt. Die Bewohner mehrerer Städte im Osten des Landes feierten die "Befreiung" ihrer Region. Augenzeugen berichteten, in den östlichen Städten Bengasi und Tobruk seien die Vertreter der Staatsmacht entweder verschwunden oder hätten sich den Aufständischen angeschlossen.

Wegen der Unruhen haben sämtliche Häfen des Landes dichtgemacht. Das könnte auch die Ausreise von tausenden Ausländern behindern. Laut dem Außenamt in Wien befanden sich am Mittwoch noch etwa 85 Österreicher in Libyen, 30 in Tripolis und der Rest verstreut im Land bei österreichischen Firmen, wo sie relativ sicher seien. Insgesamt befanden sich noch rund 10.000 EU-Bürger im Land, dazu noch 25.000 Türken und 33.000 Chinesen.

Der zurückgetretene libysche Justizminister Mustafa Abdel Jalil erklärte, dass er "beweisen kann, dass Gaddafi den Befehl für das Lockerbie-Attentat gegeben hat" (mu, lask, Reuters, AFP, AP, red/DER STANDARD, Printausgabe, 24.2.2011)