Markus Hinterhäuser, geboren 1959 in La Spezia, studierte Klavier an der Musikhochschule Wien, am Mozarteum Salzburg sowie in Meisterkursen u. a. bei Elisabeth Leonskaja und Oleg Maisenberg. Als Pianist trat er sowohl solistisch als auch in Kammerkonzerten und Liederabenden in den bedeutendsten Konzertsälen und Festivals auf. In den letzten Jahren konzentrierte er sich auf zeitgenössische Musik. Bei den Salzburger Festspielen programmierte er die Veranstaltungsreihe Zeitfluss, bei den Wiener Festwochen die Zeit-Zone. Seit 2006 verantwortet er das Konzertprogramm der Salzburger Festspiele. 2011 ist er deren Intendant.

Foto: Luigi Caputo

Daniel Ender sprach mit dem Intendanten der Festspiele über sein Verhältnis zu Mahler und über dessen Verhältnis zur Welt.

Standard: Namensgeber und Mittelpunkt der "Szenen" ist heuer Mahler. Was von seinem riesigen OEuvre sollen die Konzerte bei den Salzburger Festspielen zeigen?

Hinterhäuser: So ein riesiges Oeuvre ist es ja nicht, es ist vergleichsweise sogar überschaubar. Die Ausmaße, die Dimensionen im Einzelnen, die sind allerdings riesig. Was genau macht denn das Werk Mahlers aus? Es ist Das klagende Lied, die neun Symphonien, Das Lied von der Erde, die unvollendete Zehnte Symphonie und Lieder. Betrachtet man es genau, besteht Mahlers Werk eigentlich nur aus zwei Gattungen: der Symphonie und dem Lied.

Standard: Und aus der Symbiose der beiden Gattungen.

Hinterhäuser: Ja, eine Symbiose, die sich über das Gesamtwerk erstreckt. Gleich in seiner Ersten Symphonie wird das Lied zur Symphonie, und in einem seiner letzten Werke, dem Lied von der Erde, die Symphonie zum Lied. Diese Dynamik, dieses Arbeiten zwischen den beiden Gattungen, scheint mir außerordentlich interessant und wesentlich. Das ist etwas, das mich in der Ausgestaltung der "Mahler-Szenen" sehr beschäftigt hat. Ein anderer, auch sehr auffälliger Aspekt ist die fast schon romanhafte Dimension seiner musikalischen Vorstellungskraft. Man könnte die Symphonien Mahlers ja fast schon als Musikromane bezeichnen. Er sprengt wesentliche Dimensionen, bewegt sich in Spannungsfeldern zwischen Genres und Stilen, zwischen Idiomen, die wir kennen, und Idiomen, die nicht der "symphonischen Hochsprache" entstammen, die er aber einfließen lässt und zu einer Symbiose vereint.

Standard: Ist es diese stilistische Heterogenität, die Mahler immer noch so modern erscheinen lässt?

Hinterhäuser: Es gibt etwas bei Mahler, bei dem die historische Distanz aufgehoben ist: die Frage nach der Einheit von Ich und Welt. Immer wieder wird gesagt, Mahlers Musik würde die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorausahnen. Das ist eine der Interpretationsmöglichkeiten. Empfindet man wie Mahler die Einheit von Ich und Welt in einem so starken Spannungsverhältnis, dann kann man auch die Ahnung formulieren, was mit der Welt passiert, wohin sie sich bewegt, dann ist die eigene Krise die Krise der Welt und umgekehrt. Eine künstlerische Ausdrucksform, die mit Welt und mit Weltbeschreibung zu tun hat, würde ich schon als heutig bezeichnen.

Standard: Welche Entwicklungslinien, welche Kontexte wollen nun die "Mahler-Szenen" aufzeigen? Da gibt es einerseits Bezüge zur Romantik und andererseits zur Moderne, etwa zum Schönberg-Kreis.

Hinterhäuser: Grundsätzlich ging es bei den "Szenen" der letzten Jahre um die Frage, woher etwas kommt und wohin es - möglicherweise - geführt hat. Natürlich wurde Mahler von den Komponisten der sogenannten Wiener Schule, also von Schönberg, Berg und Webern, eine fast bedingungslose Verehrung und Zuneigung entgegengebracht. Bei Schönbergs Werk fällt es mir schwer, einen ganz offensichtlichen Bezug zu Gustav Mahler herauszuhören. Ganz deutlich ist für mich der Einfluss Mahlers auf Berg - das ist die wirkliche Weiterführung, von Mahler hin zu Berg und Webern, der ja einer der eindrucksvollsten Mahler-Dirigenten war.

Standard: Inwieweit klingt denn die Musik Mahlers bei Webern weiter - abgesehen von den ganz frühen Werken?

Hinterhäuser: Auch beim späteren Webern kann man sagen, dass eine gewisse Mahler'sche Motivik noch mikroskopisch erkennbar ist, aber wirklich nur in den winzigsten Partikeln. Bei Berg ist das für mich ein sehr viel deutlicherer Zusammenhang und tatsächlich fangen die Mahler-Szenen mit Bergs Kantate Der Wein an, dann die Lulu-Suite und das Opus 1 von Mahler, Das klagende Lied. Man hat sozusagen eine imaginäre Oper, die Mahler nie geschrieben hat, und Teile einer geschriebenen Oper, nämlich Lulu, und eine Kantate, als die man Das klagende Lied möglicherweise auch bezeichnen könnte.

Standard: Weitere Konzerte beschäftigen sich mit Zeitgenossen Mahlers, weisen aber auch ganz stark in die Moderne.

Hinterhäuser: Natürlich stellt sich für mich die Frage, wohin Mahler, wohin Mahlers Symphonik geführt hat. Schostakowitsch ist hier natürlich zentral, er hat ja auch selber gesagt, dass kaum jemand sein kompositorisches Denken so beeinflusst hat wie Mahler. Den großen Symphoniker Karl Amadeus Hartmann, Charles Ives und Alfred Schnittke muss man in diesem Kontext sehen. Außerdem Mahlers Zeitgenossen, etwa Korngold oder Zemlinsky mit seiner Lyrischen Symphonie, die ohne Mahlers Lied von der Erde gar nicht denkbar ist.

Standard: Außerdem kommt im Programm die Symphonie von Hans Rott vor, die vor einigen Jahren in der Fachwelt für großes Aufsehen gesorgt hat.

Hinterhäuser: Dieser symphonische Koloss ist wirklich ein merkwürdiges Stück und im Zusammenhang mit Mahler außerordentlich interessant. Die Anlehnungen in Mahlers Erster und Zweiter Symphonie an Hans Rott sind fast schon überdeutlich. Es gibt enthusiastische Äußerungen Mahlers über dessen Musik. Seltsamerweise hat Mahler als Dirigent diese Symphonie nie aufgeführt, obwohl er ja jede Möglichkeit dazu gehabt hätte.

Standard: Neben diesem Kontext rund um Mahler erklingt seine Musik mehrfach in einer Form, wie man sie eigentlich nicht kennt.

Hinterhäuser: Ja, weil mir die Wechselwirkungen zwischen den Gattungen sehr wichtig sind, hört man Mahlers Werke in großen Teilen fast als Kammermusik: Das Lied von der Erde nicht in der Orchesterfassung, sondern in der Klavierfassung, die Vierte Symphonie in der Bearbeitung von Erwin Stein, einem Schönberg-Schüler.

Insgesamt sind die Mahler-Szenen eigentlich ein Versuch, mit Mahler ein wenig anders umzugehen, nicht immer nur die geradlinigen und offensichtlichen Wege zu gehen, sondern über Umwege auch Verborgenheiten zum Vorschein zu bringen, die dann hoffentlich auch Wesentliches über einen Komponisten aussagen können.

Standard: Was ist denn für Sie persönlich das Wesentliche an ihm?

Hinterhäuser: Mahlers Musik verändert den Herzschlag, sie nimmt einen in vielerlei Hinsicht mit. Diese Musik ist sehr aufrichtig, sie hat ein enormes Mitteilungsbedürfnis und eine große Unmittelbarkeit. Sie ist hypersensibel in ihrer Mitteilung über den Menschen, über die Situation des Menschen, über das Verhältnis des Ichs zur Welt. Es gibt eine schöne Geschichte: Franz Kafka schenkte einmal dem Rezitator Ludwig Hardt ein Buch des von ihm so geliebten und verehrten Peter Hebel mit der Widmung "Für Ludwig Hardt, um Hebel eine Freude zu machen." Auch darum geht es: Mahler eine Freude zu machen. (DER STANDARD, Printausgabe, 24.2.2011)