Nach meiner unvergesslichen, bizarren Begegnung mit Muammar al-Gaddafi vor rund zehn Jahren in Tripolis bemerkte zu vorgerückter Stunde sein vorsichtiger Chefdolmetscher: "Der Revolutionsführer bleibt unser geliebter Diktator, aber vergessen Sie bitte nicht: in Libyen ist alles möglich."

An diese Worte musste ich jetzt denken, da sich nun auch der seit 1969 als absoluter Herrscher regierende Gaddafi mit einem Volksaufstand konfrontiert sieht und dabei vor brutalster Gewalt nicht zurückschreckt, um sich selbst zu retten. Vor knapp zwei Jahren hatte sein Regime der "Volkskongresse" noch mit enormem Aufwand den 40. Jahrestag der "Großen Ersten September-Revolution" im Zeichen der neuen internationalen Respektabilität gefeiert.

Die Flucht in die Hölle war der heute wohl symbolträchtig anmutende Titel eines schmalen Bandes seiner gesammelten Kurzgeschichten und Essays, den Gaddafi mir damals "mit den besten Wünschen" in Tripolis in einem spartanisch eingerichteten Zelt, inmitten eines streng bewachten, weiträumigen Kasernenkomplexes signiert hatte.

Das Buch und die Idee, den unberechenbaren, auch dichtenden Diktator um ein Autogramm zu bitten, verdankte ich einem freundlichen Generaldirektor des Informationsministeriums. Dank der persönlichen Vermittlung von Bundespräsident Klestil gelang es unserem ORF-Team, die Zusage eines Interviews mit dem "Revolutionsführer" für eine TV-Dokumentation zum zehnten Jahrestag des Todes von Bruno Kreisky zu bekommen. Nach vier Tagen Wartezeit in brütender Hitze in Tripolis, in den letzten Minuten vor der Abreise, konnte ich Gaddafi schließlich tatsächlich in besagtem Zelt interviewen. Er war aber anfänglich nur bereit, ohne Kamerateam seine Bewunderung für Kreisky auszudrücken, der ihn bei seinem ersten Auftritt im Westen 1982 mit allen Ehren in Wien empfangen hatte. Erst meine Bitte um Signierung seines belletristischen Erstlingswerks ermöglichte, dass sich ORF-Kameramann Stephan Mussil uns anschließen durfte.

Gaddafi war mit einer Tarnjacke ohne Rangabzeichen und beigefarbenen Hosen bekleidet. Er band sich dann blitzschnell mit wenigen Griffen aus einem langen Tuch einen stattlichen Turban. Mit seinem von Furchen durchgezogenen Gesicht ähnelte er schon damals kaum jenem schneidigen jungen Revolutionsführer, dessen Bilder in unzähligen Variationen die Straßen, die Büros und die Schauräume schmückten.

Gaddafi griff in unserem Gespräch den US-Imperialismus und die westliche Haltung gegenüber Afrika scharf an. Der einzige Politiker, den er - außer natürlich Kreisky - über den grünen Klee lobte, war Jörg Haider. Der Landeshauptmann von Kärnten hatte Libyen viermal besucht, Gaddafi wiederholt getroffen und war damals eng mit seinem in Wien studierenden zweitältesten Sohn Saif al-Islam befreundet.

Bis vor kurzem hatte der nach 42 Jahren an der Macht wohl größenwahnsinnig gewordene Beduinensohn das Land von der Größe Westeuropas mit drei Prozent der Ölreserven der Welt im eisernen Griff. Nun ist aber der Lack auch in Libyen ab. Die Tage des Gadaffi-Klans sind gezählt. (Paul Lendvai, STANDARD-Printausgabe, 22.02.2011)