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Die geschändete Lucretia bohrt sich den Dolch in die Brust: Obwohl Angelika Kirchschlager im Theater an der Wien herzergreifend leidet, kann auch das die Logik des Stücks nicht ganz erschließen.

Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Wien - Unausweichlich ist das Schicksal in der antiken Mythologie und in der Darstellung der eigenen Geschichte. Unausweichlich: So wirkt auch das Geschick der Figuren in den meisten Opern von Benjamin Britten. Und das ist nicht nur eine Sache der Handlung, sondern wirkt bis tief in seine Musik hinein.

Auch in der Oper The Rape of Lucretia, die am Donnerstag im Theater an der Wien Premiere hatte, nehmen musikalische Motive den unheilvollen Lauf der Dinge voraus: Insistierende Figurationen kreisen in sich, künden von der Ausweglosigkeit, in die die Titelfigur schlittern wird - als Ausgeburt bedingungsloser Treue wird sie, halb im Traum, halb dazu gezwungen, Ehebruch begehen und sich am Ende, obgleich ihr der Gemahl großmütig verzeiht, das Leben nehmen.

Die reduzierte Orchesterbesetzung verschärft die musikalische Sprache Brittens im Vergleich zu seinen groß besetzten Opern noch zusätzlich, insbesondere in den Händen des Klangforums Wien, für das Zuspitzung und Präzision zwei Seiten derselben Sache sind. Düster und fahl bringt es sich mit Dirigentin Sian Edwards in Stellung, um dann kantable Bläsermelodien und ätherische Streicherakkorde umso poetischer hervorleuchten zu lassen.

Schlüssiges Drama in Musik

Das Drama, das sich da in der Musik abspielt, ist freilich um einiges schlüssiger als das metaphernschwülstige Textbuch von Ronald Duncan und die pathetisch gewichtete Fassung der Geschichte nach dem Theaterstück von André Obey. Die christliche Theodizee, die Rechtfertigung allen irdischen Leidens durch den in der Rahmenerzählung wortreich heraufbeschworenen Erlöser Jesus Christus, bleibt reichlich gezwungen, auch wenn man sich auf eine so intelligente Weise auf die Suche nach Lösungen begibt wie Regisseur Keith Warner.

Erzählerin (Kim Begley) und Erzähler (Angel Blue) halten sich bei ihm die meiste Zeit in luftiger Höhe über dem Geschehen auf. Er könnte - so suggerieren es die Bühnenbilder von Ashley Martin-Davis - ein Schriftsteller sein, der die Geschichte gerade zu Papier bringt und an ihr halb verzweifelt.

Sie ist dann als Gegenstück die Leserin, die zu Beginn des Stücks gerade in ihre Wohnung kommt und das Drama genauso existenziell miterlebt wie der Autor; beide kippen sie in die Handlung hinein, entwickeln sich zu Mitleidenden, statt sich in der Tradition des Chors im antiken Theater auf Erzählung und Deutung der Story zurückzuziehen.

In deren Mittelpunkt steht neben dem warm tönenden, darstellerisch allerdings etwas hilflosen Jonathan Lemalu (als Lucretias Gatte Collatinus) mit Angelika Kirchschlager eine gewiefte Leidensmimin. Auch wenn sie in der Titelpartie, besonders in der tieferen Lage, mitunter stimmlich kaum noch tragfähig über die Rampe kommt, gestaltet sie mit herzergreifender Bedingungslosigkeit eine Nahansicht der Kreatur. Während Brittens Partitur aus der Qual des Opfers ihre betörendsten Elemente gewinnt, vereint Kirchschlager im mittleren Register wohlklingende Expressivität mit Leib und Seele.

Leib und Seele: Genau das will das Libretto, wie Platon, wie die Christenheit, trennen. Und darin liegt die Paradoxie des Stücks. Dass sich beides längst nicht mehr so glatt trennen lässt, davon kündet nämlich die Musik - zumindest zwischen den Notenzeilen.

Wie also das Problem lösen? Affirmativ gutheißen lässt sich der Selbstmord der unschuldig Schuldigen kaum, über den Umweg der Identifikation der beiden Erzähler mit Lucretias Schicksal gelingt es Warner dennoch, Distanz und Empathie gleichermaßen auf die Bühne zu zaubern - ein gangbarer Weg. Die Problematik des Stücks löst er freilich nicht. (Daniel Ender, DER STANDARD - Printausgabe, 19./20. Februar 2011)