Robert Fellner, Lektor an der Ain-Shams Universität in Kairo, hat die Proteste vor Ort miterlebt und dokumentiert (siehe Links).

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Robert Fellner, Lektor an der Ain Shams-Universität in Kairo, unterrichtet seit einem halben Jahr Deutsch als Fremdsprache in Ägypten. In einem derStandard.at-Interview mit Bernhard Oesterreicher schildert er seine Erlebnisse und erzählt wie sich die Proteste gegen Hosni Mubaraks Regime entwickelten.

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derStandard.at: Wie haben Sie die Revolution in Ägypten erlebt?

Fellner: Der Eindruck, den ich durch die Gespräche mit Einheimischen und auch durch die arabischen Medien, die nicht unter der Kontrolle Mubaraks standen, gewonnen habe, war, dass die Revolution vom Internet ausgegangen ist. Bestimmte Internetseiten, aber auch Handynetze sind relativ schnell gesperrt worden, um die Kommunikation zwischen den Demonstrierenden zu verhindern. Das war aber nutzlos. Am Anfang waren nur bestimmte Internetseiten gesperrt, wie Facebook, Twitter, Youtube und Gmail, es wurden aber blitzartig über Emails Informationen verbreitet, wie man die Sperre umgehen kann. Etwa durch Websites, die neue IP-Adressen vergeben. Dadurch konnte man die gewünschten Seiten wieder anwählen. Daraufhin hat der Staat das Internet komplett gesperrt. Der Helpdesk von Vodafone Egypt hat nur gesagt, dass es ein Befehl von oben sei. Was der Staat aber nicht verbieten konnte, waren die gemeinsamen Gebete. Die Moscheen waren Treffpunkte für die Demonstranten und so wurde aus einer kleinen Gruppe von mutigen Menschen eine revolutionäre Massenbewegung. Die Gebäude der staatlichen Handynetzbetreiber wurden als Reaktion auf die Sperrungen in Brand gesetzt. Wenig später brannte auch das NDP-Parteigebäude, ein Symbol der Macht Mubaraks. Den Umsturz des Mubarak-Regimes allein dem Internet oder einer Internetrevolution zuzuschreiben, ist aber zu kurz gegriffen. Beinahe die Hälfte der Bevölkerung lebt von weniger als 2 Euro am Tag. Sie können sich keinen Internetzugang leisten. Ich habe mit Einheimischen gesprochen, die sagten, sie würden für die Revolution sterben. Ihre Lebensbedingungen sind so schrecklich, dass sie lieber für Veränderung kämpfen, als weiter so zu leben.

derStandard.at: Wo haben Sie sich zum Zeitpunkt der Proteste aufgehalten?

Fellner: Die meiste Zeit habe ich mit anderen Lektoren der Ain Shams-Universität verbracht. Wir haben uns in eine Wohnung eines Kollegen zurückgezogen, um dort gemeinsam zu übernachten. In dieser kleinen Gruppe haben wir uns sicherer gefühlt. Am Anfang sind wir zu den Demonstrationen gegangen, um einen Einblick, abseits der teils widersprüchlichen Informationen durch die Medien, zu bekommen. Später haben wir das Haus immer seltener verlassen. Nur um Nahrungsmittel zu besorgen, aber auch weil wir durch die Berichte in den Medien immer nervöser wurden. Wir machten dann kurze Spaziergänge, die uns etwas beruhigten. Trotzdem waren wir jedes Mal froh, wieder heil nach Hause gekommen zu sein. Die Geschäfte und Restaurants in unserer Umgebung waren geschlossen. Die Fensterscheiben mit weißer Farbe übermalt. Viele Shops in unserer Umgebung waren geplündert, Autos ausgebrannt und Patronenhülsen lagen auf der Straße herum.

derStandard.at: Haben die Medien davor gewarnt, das Haus zu verlassen?

Fellner: Es haben uns von Anfang an, als die Proteste eigentlich noch friedlich verlaufen sind, Menschen gewarnt das Haus zu verlassen. Vom Staat wurden Ausgangssperren verhängt, die aber nur von wenigen ernst genommen wurden. Wir sind auch nach draußen gegangen, weil wir das Geschehen sehen wollten, einerseits aus Neugier andererseits aus Sympathie für die Demonstranten. Die Stimmung bei den Demonstrationen war oft sehr ausgelassen und fröhlich. Die Menschen umarmten sich, sangen und jubelten. Manche haben uns in Gespräche verwickelt, wir haben einander Fragen gestellt, Telefonnummern ausgetauscht, sie waren sehr aufgeschlossen und freundlich. Später, nachdem auch Ausländer angegriffen wurden, haben wir die Straße gemieden und sind seltener zu den Demonstrationen gegangen.

derStandard.at: Warum haben die Angriffe auf Ausländer stattgefunden?

Fellner: Vor allem weil die staatlichen Medien, das war zumindest unser Eindruck, gegen die Ausländer gehetzt haben. Sie haben die Ausländer für das Chaos in Ägypten verantwortlich gemacht. Das hat sich negativ auf unsere Situation ausgewirkt. Freunde von mir sind überfallen worden, sind aus Hotels evakuiert worden, sind teilweise verprügelt worden. Auf einen meiner Freunde wurde geschossen, er blieb aber zum Glück unverletzt.

derStandard.at: Womit wurde auf ihn geschossen?

Fellner: Er hat mir erzählt, es war scharfe Munition. Sicher weiß ich es aber nicht.

derStandard.at: Am Anfang war es so, dass die Ausländer bei den Protestierenden noch willkommen waren?

Fellner: Die Gewalt gegen die Ausländer ist nicht von den Anti-Regierungs-Demonstranten ausgegangen. Es waren die entlassenen Häftlinge und die korrupten Polizisten, die Jagd auf Journalisten und Ausländer machten. Es wurden Hotels gestürmt und Freunde von mir ausgeraubt. Die Anti-Regierungs-Demonstranten hingegen waren  wohlwollend gegenüber den Ausländern. Sie sind auch vor meine Kamera gesprungen und haben Statements abgegeben. Sie haben Chips und in Essig getauchte Taschentücher gegen das Tränengas verteilt. Sie haben uns Cola gegeben, damit wir uns das Tränengas aus den Augen waschen konnten.

derStandard.at: Was ist passiert, als die Plünderungen begonnen haben?

Fellner: Es haben sich Milizen gebildet, um ihre Geschäfte und ihre Familien zu beschützen. Die Plünderungen waren offensichtlich staatlich initiiert und wurden von Häftlingen unter der Aufsicht von zivilen Polizisten ausgeführt. Wegen dieser Plünderungen hatten die Menschen Angst um ihre Familien und ihr Hab und Gut. Die Leute errichteten dann alle 50 Meter Checkpoints, wo die Menschen teilweise mit Schlagstöcken, Holzprügeln, Handfeuerwaffen, Gewehren und Molotow-Cocktails bewaffnet waren, um sich gegen die Plünderer zu verteidigen. Zum Teil waren das Gruppen von 10-50 Leuten. Die Milizen setzten sich nicht nur aus erwachsenen Männern, sondern auch aus Kindern, Jugendlichen und Greisen zusammen. Ein Ägypter hat uns aufgehalten und gesagt: „Go home or you will die.“ Es war keine Drohung, sondern er brachte seine Sorge um uns zum Ausdruck.

derStandard.at: Wie war das mit den Häftlingen. Woher kamen sie und was machten sie?

Fellner: Ich habe von Leuten aus der Umgebung gehört, das hat sich in Kairo herumgesprochen, dass diese Häftlinge absichtlich freigelassen wurden. Es wäre ein seltsamer Zufall, wenn plötzlich mehrere tausend Häftlinge aus verschiedenen Gefängnissen freikommen. Diese Häftlinge sind gemäß der Informationen meiner ägyptischen Freunde mit einem geringen Betrag bestochen worden, um möglichst viel Chaos zu stiften. Also um einerseits gegen die Anti-Regierungs-Bewegung vorzugehen und andererseits Plünderungen durchzuführen, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen und die Demonstranten zu entmutigen. Sie wollten, dass die Leute anstatt am Tahrir-Platz zu demonstrieren zu Hause bleiben, um ihre Familien zu beschützen. Das Resultat war aber, dass sehr viele Demonstranten ihre Familien mitgenommen haben auf den Midan Tahrir.

derStandard.at: Welche Bilder brachten die staatlichen Sender im Fernsehen?

Fellner: State TV und Nile TV lieferten ganz andere Bilder und Informationen als Al Jazeera oder Al Arabia. Die Bilder der staatlichen Medien waren meistens friedlich. D.h., während auf dem Tahrir-Platz Zehntausende demonstriert haben, mit Tränengas beschossen und mit Schlagstöcken niedergeprügelt wurden, haben die staatlichen Sender stundenlang Bilder von einer Brücke gezeigt, wo der Verkehr relativ normal abgelaufen ist. Sie haben das Ausmaß der Demonstrationen damit absichtlich heruntergespielt.

derStandard.at: Was können Sie noch von den Ereignissen schildern?

Fellner: Es wurde jede Nacht vor unserer Haustüre geschossen. Meistens waren es Warnschüsse, aber hin und wieder waren es auch Schusswechsel. Die Milizen schlugen mit Holzstöcken gegen Blechcontainer, um ihre Freunde zu warnen und die Plünderer abzuschrecken. Die Menschen haben geschrien. Es war in der Dunkelheit nicht mehr klar erkennbar, wer Freund oder Feind ist. Mubarak hatte zuvor alle Polizisten abgezogen. Es hat mehr oder weniger Anarchie geherrscht.

derStandard.at: Die Polizisten wurden abgezogen zu ihrem eigenen Schutz?

Fellner: Sie wurden abgezogen, damit sich das Chaos ausbreiten kann. Sie waren auch an den Plünderungen beteiligt. Ein Schachzug um die Bevölkerung in Angst zu versetzen. In den staatlichen Medien wurden die Anti-Regierungs-Demonstranten als Verbrecher hingestellt und die Milizen als Helden. Die Botschaft der staatlichen Medien war eindeutig: Freiheit oder Sicherheit. Aber die vielen Ägypter hatten die Propagandamaschinerie längst durchschaut und haben weiter für ihre Freiheit gekämpft. Die Gewalt ging vom Staat aus, nicht von den Anti-Regierungs-Demonstranten.

derStandard.at: Welche Rolle spielte das Militär in der Revolution?

Fellner: Das Militär hat sich zunächst neutral verhalten und schlug sich dann auf die Seite der Demonstranten. Ein Großteil der ägyptischen Familien hat zumindest einen Sohn, der als Soldat dient. Das Militär war von Anfang an positiv besetzt bei der Bevölkerung. Sie waren Hoffnungsträger. Dennoch gab es Situationen, die die Demonstranten entmutigt haben. Als die korrupten Polizisten in Zivilkleidung und die bezahlten Häftlinge die Anti-Regierungs-Demonstranten attackierten, hat das Militär nur zugesehen, obwohl sie die Möglichkeit gehabt hätten, einzugreifen. An diesem Tag kamen sehr viele Menschen ums Leben. Es ist aber fraglich, ob das Militär zu diesem Zeitpunkt wusste, dass es sich bei den Pro-Mubarak-Demonstranten um Söldner handelte.

derStandard.at: In den Medien hat man auch Fotos gesehen, wo Moslems und Christen demonstrativ zusammen protestiert haben. Was können Sie mir darüber erzählen?

Fellner: Man muss sagen, dass Regligion eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Es war keine religiöse Revolution. Es ging um Menschenrechte. Die Menschen haben zwar gebetet, auch auf den Straßen. Aber es war irrelevant, ob jemand Kopte oder Moslem war. Die Menschen haben sich gegenseitig geschützt, verarztet und mit Verpflegung versorgt. Sie hatten das gleiche Ziel: Den Sturz des Regimes, Freiheit und lebenswerte Bedingungen.